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In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück

Titel: In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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ihr versicherte, dass ich noch nicht so weit sei. Manchmal warf sie mir Zahlen an den Kopf, in der Hoffnung, ich würde sie automatisch addieren, oder sie referierte ausschweifend über Aktiendepots. Manchmal zeigte sie mir Bilder von Kunstgegenständen im Internet und deutete auf die daneben stehende Kaufsumme, aber mich interessierte der Plunder nicht. Ich hatte auch keine Ahnung, ob Karl die ganzen wertvollen Sachen, die Onkel Thomas haben wollte, wirklich besaß; gesehen hatte ich noch nichts davon, und manche Gegenstände klangen, als habe Onkel Thomas sie höchstpersönlich erfunden.
    Und die meiste Zeit war mir das alles herzlich egal.
    Karl war tot.
    »Sei lieber eine erstklassige Ausgabe deiner selbst,
    als eine zweitklassige Kopie von jemand anderem.«
    Judy Garland

Weise, weise.
Aber um eine erstklassige Ausgabe von sich
selber zu sein, muss man erst mal wissen,
wer man überhaupt ist.

    »Sei einfach du selbst«, war der Leitsatz meiner Kindheit. Meine Mutter sagte ihn immer, wenn ich mich darüber beklagte, keine Freunde zu haben. »Sei einfach du selbst, dann lieben dich alle so, wie du bist.«
    Tja, was soll ich sagen? Das ist einfach nicht wahr. Selbstverständlich sollte man sich nicht verstellen und so sein, wie man ist, aber es ist schlichtweg falsch, zu erwarten, dass einen dafür alle lieben. Nur, wenn man sehr viel Glück hat, dann findet man – außerhalb der eigenen Familie – Menschen, die einen genau so lieben, wie man ist.
    Dumm, wenn ausgerechnet dieser Mensch stirbt.
    Ich hatte zwei Schulhefte mit Linien gekauft. Nun saß ich damit bei Mimi am Esstisch und starrte auf die erste Seite. Frau Karthaus-Kürten hatte zwar gemeint, ich solle die Dinge nur für mich aufschreiben, aber das machte doch wenig Sinn, denn ich hatte für mich alles in meinem Kopf recht gut geordnet. Wenn ich »die Dinge« nun aufschrieb, dann nur, um esFrau Karthaus-Kürten zu erleichtern, mich besser kennen zu lernen und damit auch besser zu therapieren.
    Um ihr den Einstieg leicht zu machen, beschloss ich, mit einer kurzweiligen Episode zu beginnen. Und zwar mit dem Tag, an dem mich Leo seiner Mutter vorstellte. (Sie erinnern sich, Frau Karthaus-Kürten? Leo war mein erster Freund, der Sohn meines späteren Ehemannes … ah, ja, das hatten Sie dreimal unterstrichen.)
    Leos Mutter und seine Schwestern wohnten in Oer-Erkenschwick, eine Stunde Autofahrt von Köln entfernt. Sie besaßen dort ein hübsches Einfamilienhaus mit großem Garten, und gleich nebenan lebten Leos Großeltern mütterlicherseits. Alles sehr idyllisch gelegen. Eine große Wiese mit Apfelbäumen gegenüber war ebenfalls im Familienbesitz, und Leo sagte, wenn es nach den Großeltern ginge, würden er und seine beiden Schwestern dort auch irgendwann ein Haus bauen, alle drei nebeneinander.
    »In Oer-Erkenschwick«, sagte ich, weil ich den Namen so schön fand, dass ich ihn ständig aussprechen musste. Oer-Erkenschwick. Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
    »Es gibt schlechtere Orte zum Leben«, sagte Leo.
    Leos Mutter sah aus wie Leo in weiblich: Groß, blond, hübsch, mit blitzenden blauen Augen, denen scheinbar nichts entging.
    »Sie haben da einen Fleck«, war so ziemlich das Erste, was sie zu mir sagte. Gleich nach: »Guten Tag, schön, Sie kennen zu lernen, Carola.«
    »Carolin«, verbesserte Leo.
    Ich starrte entsetzt auf mein T-Shirt, tatsächlich war da ein Hauch von einem Fleck, sozusagen ein Phantomfleck, nämlich, wo ich am Morgen einen Klecks Zahnpasta aus dem Stoffgebürstet hatte. Ich hatte nicht gedacht, dass man ihn ohne Lupe noch erkennen konnte.
    Doch, Leos Mutter konnte. »Das Bad ist da vorne links, wenn Sie sich frisch machen wollen.« An ihrem Tonfall war klar herauszuhören, dass sie das dringend für nötig befand.
    Während ich im Badezimmer stand, in den Spiegel schaute und mich tadellos und frisch fand, hörte ich Leo und seine Mutter leise miteinander sprechen. Das heißt, Leo sprach leise, seine Mutter antwortete recht laut und deutlich, und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wollte, dass ich hörte, was sie sagte.
    »Sicher, mein Schatz. Ich finde sie nur ein wenig … – unscheinbar. Ein wenig durchschnittlich . So ein graues Mäuschen, eben. Meinst du wirklich, dass sie zu dir passt?«
    Leos Antwort konnte ich nicht verstehen.
    »Es ist nur so, dass ich denke, du verdienst etwas ganz Besonderes, mein Schatz«, sagte Leos Mutter.
    Ich schluckte hinter der Badezimmertür.

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