In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
lassen.«
»Das stimmt nicht. Es war genau umgekehrt. Ich wollte nicht damit angeben. Deine Mutter hat so von euch geschwärmt, und da dachte ich, ihr würdet es gar nicht gern hören, dass ich etwas besser kann als ihr …«
»Ah. Jetzt ist also meine Mutter schuld, dass du gelogen hast.«
»Ich habe nicht gelogen!«
»Verschweigen ist dasselbe wie lügen«, sagte Leo.
»Als angehender Anwalt solltest du aber wissen, dass das nicht stimmt.«
»Moralisch gesehen stimmt es aber. Als Nächstes sagst du mir, dass du mit sechs Zehen geboren wurdest.«
Wie bitte? »Ja, und? Würdest du dann Schluss machen?«
»Es geht ums Prinzip«, sagte Leo. »Wir sind jetzt fünfMonate zusammen – und offenbar hast du mir nicht die Wahrheit gesagt.«
Ja, da hatte er Recht. Und ich war nicht sicher, ob ich jetzt noch damit anfangen sollte. Auf der anderen Seite: Wenn nicht jetzt, wann dann? »Meine Eltern sind über dreißig Jahre verheiratet, aber mein Vater weiß nicht, dass meine Mutter eine Teilprothese trägt«, sagte ich nach einer kleinen Pause. »Umgekehrt hat meine Mutter keine Ahnung, dass mein Vater jeden Mittwoch Lotto spielt. Ich finde, man muss sich in einer Beziehung nicht sofort alles sagen. Außerdem ist es ja wohl nicht schlimm, dass ich Klavier spielen kann. Übrigens spiele ich auch noch ziemlich gut Mandoline.« Als Leo nichts erwiderte, setzte ich mutig hinzu: »Und es gibt noch jede Menge andere Dinge, die du nicht von mir weißt.«
»Ach ja?«
»Ja.« Ich schluckte, streckte dann aber entschlossen das Kinn vor. Wenn er jetzt fragen würde, welche Dinge das waren, würde ich ihm alles über Alberta Einstein erzählen. Sogar das mit Oliver Henselmeier. Auf Koreanisch, wenn es sein musste.
Aber Leo seufzte nur. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Ich suchte nach etwas, das ich zählen konnte. Zählen beruhigte. Ich zählte sechzehn erleuchtete Fenster im Wohnheim. Achtzig Perlen um meinen Hals. Und jetzt die Haarnadeln ...
»Zählst du etwa wieder«, fragte Leo nach einer Weile.
»Vierzehn, fünfzehn, sechzehn«, flüsterte ich.
»Das ist eine merkwürdige Angewohnheit, Carolin. Das fällt auch anderen Leuten auf.«
»Schämst du dich für mich?«
»Was? Nein!« Leo seufzte. »Aber du musst zugeben, dass du ein bisschen … seltsam bist.«
»In Wirklichkeit bin ich noch viel seltsamer.« Ich versuchte Leo im Halbdunkeln einen intensiven Blick zuzuwerfen. »Aber du … du bist heute sehr gemein. Du erinnerst mich an einen Leo, den ich in der Grundschule kannte …« Dummerweise hatte ich wieder einen Kloß im Hals stecken und musste aufhören zu sprechen, um nicht loszuweinen.
»Ich habe den Eindruck, du versuchst mit allen Tricks, den Spieß umzudrehen«, sagte Leo. »Ich hasse Menschen, die keine Fehler zugeben können und sich eher die Zunge abbeißen würden, als sich zu entschuldigen.«
»Welchen Spieß?«
»Ach, komm schon, du weißt genau, dass du Mist gebaut hast.«
Ja, irgendwie schon. »Tut mir leid«, flüsterte ich.
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Leo zu meiner Überraschung: »Mir tut es auch leid.« Etwas stammelnd fuhr er fort: »Ich bin nur so … du hast aber auch …« Dann platzte es aus ihm heraus: »Es ist wegen meinem Vater, weißt du? Wenn er auftaucht, fühle ich mich immer – ich weiß auch nicht – aufgebracht . Ich habe dann das Gefühl, meine Schwestern beschützen zu müssen, und am liebsten würde ich ihn packen und schütteln … Er taucht aus dem Nichts auf und verschwindet wieder, dabei bringt er alles durcheinander, und jedes Mal bin ich so … wütend.«
»Verstehe«, sagte ich, obwohl das gar nicht stimmte. Was hatte das denn mit mir zu tun?
Leo schnalzte mit der Zunge. »Anstatt sich um seine Töchter zu kümmern, hat er dich angeflirtet. Das muss man sich mal vorstellen!«
»Hat er gar nicht.« Wie gut, dass es dunkel war, so konnte Leo nicht sehen, dass ich rot geworden war. Von Flirten konnte keine Rede sein. Nach meinem Klaviervorspiel hatten Karlund ich kein Wort mehr miteinander gewechselt. Andere Leute, seine Töchter und seine Eltern hatten ihn mit Beschlag belegt, und irgendwann hatte Leo mich zur Garderobe gezogen, ohne mir die Gelegenheit zu geben, mich ordentlich zu verabschieden. »Anstatt in der Ecke herumzustehen und ihn finster anzustarren, hättest du doch zu ihm gehen können.«
»Um doof daneben zu stehen, während er die Frau vom Landrat anbaggert?«, fragte Leo zornig. »Danke, nein, darauf kann
Weitere Kostenlose Bücher