In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Lächeln. »Ich hoffe, Sie mögen notorische Lügen und autistische Persönlichkeitsstörungen.«
Arschloch. Und dem hätte ich eine Niere gespendet!
»Ja«, sagte der Apotheker ungerührt. »Da steh ich voll drauf.«
»Dann ist ja alles bestens«, sagte Leo und öffnete die Ladentür. »Nur noch ein kleiner Tipp, so von Mann zu Mann: Stellen Sie ihr niemals Ihren Vater vor. Sie hat nun mal eine Schwäche für graue Schläfen. Äh, Wiedersehen.«
»Wiedersehen«, murmelten die ganzen Rentner im Chor.
Dann schloss sich die Ladentür, und der Spuk war vorbei. Ich griff mir an den Kopf. Gerne hätte ich mich auf einen Stuhl sinken lassen, aber es gab keinen.
»Siebzehn fuffzisch!«, rief der Rentner triumphierend.
»Riechen Sie das denn nicht?«, fragte die eine alte Frau.
Doch. Ich roch es auch. Die Hundekacke an meinen Schuhen stank fürchterlich. Auf der anderen Seite war es vielleicht der stechende Geruch, der mich davon abhielt, in Ohnmacht zu fallen.
Der Apotheker war hinter seiner Theke hervorgekommen und schob mir einen Stuhl unter den Hintern. »Du siehst aus, als würdest du gleich zusammenbrechen.«
»Ich habe Hundekacke an den Schuhen«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Das ist doch nicht schlimm«, sagte der Apotheker.
»Ich finde schon«, sagte die eine Frau.
Ich ließ mich vorsichtig auf dem Stuhl nieder und schloss die Augen. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
»Carolin Schütz, sechsundzwanzig, wohnhaft im Hornissenweg.« Ich hörte den Apotheker lächeln. (Ja! Das kann man hören!) »Stand alles auf deinem Rezept. Ist mir peinlich, dass ich dich für siebzehn gehalten habe. Aber eigentlich ist es ein Kompliment.«
»Ja, klar.«
»Eins habe ich nicht ganz verstanden«, meldete sich die Frau mit den lila Haaren zu Wort. »Wenn Sie seit sechs Wochen Witwe sind, wieso war das da eben Ihr Exfreund?«
»Ach, Sie Dummerchen! Das war doch vor ihrer Ehe«, sagte die andere Frau. »Aber ich habe das mit dem Vater und den grauen Schläfen nicht verstanden.«
»Janina? Würdest du bitte Frau Kaminsky für mich weiterbedienen?«, sagte der Apotheker. »Das Rezept liegt da.« Zu mir sagte er: »Soll ich jemanden für dich anrufen?«
»Meine Schwester ist im Schuhladen gegenüber«, sagte ich. »Bis dahin schaffe ich es allein.«
»Ich bringe dich lieber. Kannst du aufstehen?«
»Natürlich.« Ich schlurfte mit meinen Scheißschuhen zur Tür und fühlte mich mindestens so alt wie die Frau mit den lila Haaren. Der Apotheker nahm meinen Arm.
»Bin gleich wieder da, Janina«, sagte er über seine Schulter.
Draußen platschte uns der Regen ins Gesicht. »Ich bin weder eine notorische Lügnerin, noch habe ich autistische Persönlichkeitsstörungen«, sagte ich. »Gut, ich zähle manchmal Dinge. Und ich kann gut rechnen. Und Polnisch sprechen, ohne jemals in Polen gewesen zu sein. Aber mit Autismus hat das überhaupt nichts zu tun.« Wir gingen über den Zebrastreifen auf Mimis Laden zu. »Ich bin nicht mal richtig verrückt. Ich habe gerade eine schlechte Phase, das ist wahr, aber viele Menschen werden depressiv, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren, und ich kenne unzählige Leute, die auch ohne das in Therapie sind. Das heißt ja nicht, dass die alle verrückt sind.«
»Keine Sorge, ich halte dich nicht für verrückt.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Du bist nicht verrückter als andere auch.«
»Genau. Das stimmt. Und was das Lügen angeht: Ich würde sogar sagen, ich lüge weniger oft als andere Menschen. Da muss man sich doch nichts vormachen, alle Menschen lügen ab und an, die meisten täglich. In Wahrheit wird viel mehr gelogen. Viel mehr, als man so glaubt.«
»Ja«, sagte der Apotheker. »Das ist leider wahr. So, da wären wir. Soll ich dich noch reinbringen?«
»Nein«, sagte ich und schlüpfte aus meinen Schuhen. »Ab hier schaffe ich es allein.« Ich sah zu ihm hoch. »Danke. Wieder mal. Sie sind wirklich immer sehr hilfsbereit.«
»Ich weiß«, sagte der Apotheker und lächelte. »Ist ein schlimmer Helferkomplex. Liegt bei uns in der Familie.«
»Ich kenne da eine gute Therapeutin«, sagte ich. »Na ja, eigentlich ist sie lausig.«
»Hey, du hast ja Grübchen«, sagte der Apotheker.
»Oh ja. Ich benutze sie nur so selten.«
»Was schade ist.« Der Apotheker hielt mir Leos Visitenkarte hin. »Hier. Falls du doch noch mal mit ihm reden willst.«
»Worüber sollen wir denn reden? Er war mein erster Freund, und ich habe seinen Vater geheiratet. Das fand er scheiße. Und
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