In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Absicht in jede Pfütze, ein bisschen wie ein bockiges Kleinkind. So, Leben, das hast du jetzt davon, jetzt kriege ich auch noch nasse Füße. Und die Hosenbeine sind auch klatschnass. Und überhaupt könnte ich nur noch nasser sein, wenn ich in einen Teich gefallen wäre. Krieg ich jetzt eine Lungenentzündung?
Im Rosenkäferweg war es vergleichsweise taghell, die Schaufenster strahlten um die Wette, und quer über die Straße waren Lichterketten gespannt, in deren Mitte jeweils ein großer Stern im Wind schaukelte. Im Schaufenster vonstand ein riesiger Weihnachtsbaum, der mit lauter roten Pumps geschmückt war und von einer Lichterkette mit weißen Sternen beleuchtet wurde. Selbst von der anderen Straßenseite sah es super aus. Und drinnen würde es warm gemütlich sein, und ich würde meine Schuhe wegwerfen, mich aufs Sofa setzen und Cappuccino trinken. Mimi und ihre Freundinnenwürden mich trösten und moralisch aufbauen. Und bestimmt sehr über die Geschichte mit dem verhunzten Plakat lachen. Ich setzte an, die Straße zu überqueren, als sich die Ladentür öffnete und Leo heraustrat.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein!
Ich war versucht, meine Hände zu Fäusten zu ballen und dramatisch gen Himmel zu schütteln und dabei zu brüllen: »Warum ich? Warum hier? Warum?« Aber dann hätte Leo hergeschaut und mich gesehen. Und meinetwegen war er ja ganz offensichtlich überhaupt erst hergekommen. Von wegen Verfolgungswahn! Es war nur gruselig, dass er offenbar genau wusste, wo er mich finden würde. Aber wahrscheinlich wusste er, dass Mimi einen Schuhladen eröffnet hatte, die Zeitungen hatten oft genug darüber berichtet. Und ganz richtig vermutete er mich in Mimis Nähe. Wo sollte ich auch sonst hin? Gott sei Dank war ich unterwegs von einem Hundehaufen aufgehalten worden, sonst wäre ich ihm jetzt voll in die Arme gelaufen.
Das Auto, das direkt vor dem Laden auf dem Zebrastreifen im Halteverbot parkte, war offenbar seins, denn er ging mit gezücktem Schlüssel drum herum. Leider hob er dabei den Kopf und sah genau zu mir hinüber. Eine Sekunde lang starrten wir uns über den Feierabendverkehr hinweg direkt in die Augen, dann wurde mein Fluchtreflex wieder aktiviert, und ich drehe mich um und rannte davon. Direkt hinein in die Apotheke.
»Bitte – ich brauche Ihre Hilfe«, sagte ich und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht.
Vier Augenpaare glotzten mich an. Sie gehörten drei Kunden, allesamt im Rentenalter, und einer jungen Frau mit dunklen Locken hinter dem Verkaufstresen. Mein hilfsbereiter Apotheker war nirgendwo zu sehen. Mist.
»Immer schön hinten anstellen, junge Frau«, sagte ein älterer Herr. »Wir waren alle vor Ihnen da.«
»Aber ich brauche ganz dringend … einen Hinterausgang«, rief ich und sah die Frau im weißen Kittel flehentlich an. »Gibt es hier einen?«
»Ähm, ich darf leider niemanden hinter die Theke lassen, tut mir leid. Das ist Vorschrift.« Die Gute hielt mich sicher für eine Drogensüchtige, die sich im Hinterzimmer über die Morphine hermachen wollte. »Justus, kommst du bitte mal?« Letzteres rief sie über ihre Schulter.
»Also, ich finde das jetzt eine echte Frechheit«, sagte der ältere Herr, wobei nicht ganz klar war, was genau er damit meinte.
Die Kundin neben ihm sagte mitleidig: »Bestimmt ist es ein Notfall. Mir macht es nichts aus zu warten. Schauen Sie doch nur, wie nass das Mädchen ist.«
Auch die andere Kundin, eine imposante Erscheinung mit fliederfarben getöntem Haar, schlug sich auf meine Seite. »Wegen Leuten wie Ihnen haben wir Rentner so einen schlechten Ruf«, sagte sie zu dem meckernden Herrn, und zu mir sagte sie: »Vor wem müssen Sie sich denn verstecken, Kind?«
»Vor … vor meinem Exfreund«, sagte ich, und da ging auch schon hinter mir die Ladentür auf und besagter Exfreund betrat die Apotheke.
»Die Herrlichkeit der Welt ist immer adäquat der
Herrlichkeit des Geistes, der sie betrachtet.
Der Gute findet hier sein Paradies, der Schlechte
genießt schon hier seine Hölle.«
Heinrich Heine
Willkommen in meiner Hölle.
Ich hatte mir durchaus ab und an – in Momenten mit masochistischen Anwandlungen – Leos und meine Wiederbegegnung ausgemalt. Mir war schon klar, dass wir noch eine Rechnung miteinander offen hatten. Er mit mir, weil ich in derselben Nacht, in der er unserer Beziehung eine Auszeit verordnet hatte, mit seinem Vater ins Bett gegangen war, und ich mit ihm, weil … – na ja, insgesamt war er nicht besonders nett
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