In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
glänzen sehen. Und vergessen Sie nicht, Ihre Tabletten zu nehmen.«
Ich vergaß es nicht. Ich nahm meine Tabletten, ich ging regelmäßig zur Idioten-Therapie, und ich ging sogar zum Friseur. Aber ich blieb trotzdem in meinem schwarzen Loch hocken. Die Tage vergingen in grauem Einerlei, und an vielen Tagen war das größte, das ich leistete, aufzustehen und mir die Zähne zu putzen.
Etwa eine Woche nach meinem denkwürdigen Zusammentreffen mit Leo in der Apotheke wurde ich krank. Es fing ganz harmlos mit Schnupfen und Halsschmerzen an, dann bekam ich einen widerwärtigen Husten und Fieber, und eine Woche vor Weihnachten diagnostizierte Ronnies und Mimis Hausarzt (auf diese Weise lernte er mich wenigstens mal persönlich kennen) eine verschleppte Bronchitis und verschrieb mir Antibiotika. Für ein paar Tage ging es mir besser, aber dann kehrte die Bronchitis unangekündigt zurück, heftiger und schmerzhafter als vorher. Was der Husten an Schleim zutage förderte,hatte eine so ungesunde grüne Farbe, dass ich niemandem davon erzählen wollte. Heiligabend verbrachte ich mit 39,5 Grad Fieber im Bett, und als es mir am zweiten Weihnachtsfeiertag immer noch nicht besser ging, überwies mich der von Ronnie alarmierte Arzt ins Krankenhaus. Ich sträubte mich zunächst ein bisschen, weil ich Angst hatte, man könnte mich in einem schwachen Moment, ohne dass ich es merkte, in die geschlossene Psychiatrie schieben, aber Mimi versicherte mir, dass sie so etwas niemals tun würde. Das Fieber machte mich wirklich sehr schlapp, und so kam es, dass ich nur eine Stunde später in einem Dreibettzimmer mit pipigelben Wänden und einem Waschbecken lag. Nummer 311.
Obwohl Weihnachten war, waren die Betten links und rechts nicht leer, zwei ungefähr hundertjährige Damen röchelten darin vor sich hin, die eine mit einer Lungenentzündung und einem Blasenkatheder, die andere ohne besondere Diagnose. Ich argwöhnte, ihre Familie hatte sie über Weihnachten mal quitt kriegen wollen, denn sie hatte ein paar Eigenschaften, die das Zusammenleben mit ihr sicher nicht einfach machten. Unter anderem stieß sie mitten in der Nacht schrille Schreie aus, und tagsüber sagte sie gefühlte hundertmal in der Stunde: »Ach, ach, ach, ja.«
Den ersten Tag und die erste Nacht war ich zu krank, um das Krankenhausleben fürchterlich zu finden, aber dann wirkten die Antibiotika, die ich über einen Tropf verabreicht bekam, und ich fing an, sehr zu bereuen, keine Privatversicherung abgeschlossen zu haben.
Die Frau mit der Lungenentzündung bekam reichlich oft Besuch von ihrer Familie, der Sohn und die Tochter kamen und brachten das etwa fünfjährige Urenkelchen mit, das Scholiene hieß. Ich war kurz davor zu fragen, wie Scholiene denn buchstabiert würde, aber dann fiel mir ein, dass ich neulich ersteine Geburtsanzeige von »Moniek Eilien« gelesen hatte und ließ es lieber bleiben. Scholiene war eins dieser Kinder, von denen man glaubt, es gibt sie gar nicht. Sie durfte die ganze Zeit Lutscher essen und hatte ein Trinkfläschchen mit Limo dabei. Und von ihren Großeltern, also den Kindern meiner hundertjährigen Bettnachbarin, lernte sie allerfeinstes Deutsch.
»Scholiene, mach dem armen Omma doch ma ei. Dem is so krank.«
»Scholiene, willst du dem Omma ma dein neuen Gameboy zeigen? Kuckma, Omma, der kann sogar Internet.«
Und mein absoluter Favorit: »Komm, Scholiene, jetzt füttern wir dem armen Omma ma. Nä, nich mitter Gabel, dat is ne Suppe.«
»Ach, ach, ach, ja«, sagte die Frau im Fensterbett.
Ich wollte nach Hause. Aber ich durfte nicht, weil aus meiner Bronchitis ebenfalls eine Lungenentzündung geworden war und ich nun mindestens zehn (zehn!!!) Tage lang intravenös Antibiotika verabreicht bekommen sollte und Bettruhe benötigte. Meine Schwester war voller Mitleid, sie und Ronnie kamen jeden Tag, fütterten mich mit Obst und versorgten mich mit Büchern und einem I-Pod voller Hörbüchern und die Stimmung hebender Musik. Sie fütterten auch die Ach-achach-ja-Frau mit Obst, die weinte dann immer vor Rührung, und die Scholiene-Urgroßmutter bekam auch Weintrauben und Mandarinen ab, das war eine schöne Abwechslung zu dem Klosterfrau-Melissengeist, den ihre Tochter ihr immer Esslöffelweise einflößte. »Damit du widda auf die Beine kommst, Omma.«
Meine Eltern kamen aus Hannover und brachten mir ebenfalls Bücher und haufenweise Schlafanzüge und Nachthemden sowie Rotbäckchensaft und meine Mandoline mit. Ich starrte die Mandoline
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