In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Tatsächlich fanden wir in dem Lagerhaus – mehr als fünfzig Quadratmeter hatte Karl angemietet, und die Sachen stapelten sich teilweise bis zur Decke – die meisten der von Onkel Thomas gelisteten Gegenstände wieder, unter anderem das so oft erwähnte »Fischstillleben in einer Uferlandschaft«. Auch wenn Karl immer zu sagen pflegte, dass Kunst etwas sei, das sich einem auch mit Intelligenz nicht erschließt, war ich der Überzeugung, noch niemals ein hässlicheres Bild gesehen zu haben, und ich war spontan bereit, Onkel Thomas das Werk selbstlos zu überlassen.
Aber der Anwalt meinte, das wäre ein dummer Fehler, denn dieses Bild sei seinen Nachforschungen zufolge an die hunderttausend Euro wert. Danach betrachtete ich die toten Fische und Aale mit anderen Augen.
Eigentlich hatte ich gehofft (und auch gefürchtet), in dem Lagerraum auf persönliche Spurensuche gehen zu können, auf sentimentale Erinnerungen zu stoßen und ein Stückchen von Karl wiederzufinden, aus der Zeit vor mir. Aber alles, was hier lagerte, hatte seinen Eltern und seiner Tante Jutta gehört, vermutlich hatte er es auf lange Sicht verkaufen wollen. (Und das war meiner Ansicht nach auch das Beste, was man mit den meisten von diesen Sachen tun konnte.)
Einen ganzen Tag waren der Anwalt, sein Gehilfe und ich damit beschäftigt, die Gegenstände zu katalogisieren. Alles, egal ob Stuhl, Bild, Spiegel oder Bronzeskulptur, wurde fotografiert, bekam eine Nummer, eine Bezeichnung und eine Kurzbeschreibung (»Nr. 13, Specksteinskulptur mit fünfBeinen, vermutlich Außerirdischer, Höhe ca. sechzig Zentimeter, potthässlich«), und am Abend waren wir alle rechtschaffen erledigt. Die viel beschworene Schnupftabaksdose, Uhren und Schmuck waren nicht dabei gewesen, was den Anwalt ärgerte, denn laut Onkel Thomas handelte es sich um Schmuck und Uhren von beträchtlichem Wert. (»Meinem Mandanten geht es aber in erster Linie um den ideellen Wert der Dinge, denn er verknüpft damit Traditionen und Erinnerungen …« ) Es gab auch etliche Umzugskartons, die wir nur grob durchsahen und kartonweise erfassten, in der Hoffnung, dass sich zwischen dem Kram nicht noch Kostbarkeiten versteckt hatten. Elf Kartons mit Büchern, drei Kartons mit Frauenkleidung Größe 42 und ein Karton mit einer Porzellanhundsammlung. Das beste Fundstück war ein ausgestopfter Foxterrier, dessen Glasaugen uns forsch und verblüffend freundlich anblickten.
»Ist der was wert?«, fragte ich den Anwalt.
»Also, mir müssten Sie noch was dafür bezahlen, wenn ich den nehmen müsste«, antwortete er. Trotzdem – korrekt wie wir waren – wurde der Hund ordentlich katalogisiert und bekam die Nummer 243. Er trug ein Halsband mit einem hübschen, silbernen Herzanhänger, auf den sein Name eingraviert war.
Einer Eingebung folgend nahm ich »Nummer zweihundertdreiundvierzig mit nach Hause, wo ich ihn an Mimi und Ronnie vorbei in mein Zimmer schmuggelte. (Seit Mimi schwanger war, hatten wir strenge Hygienevorschriften, und ich fürchtete, ausgestopfte Hunde hatten Hausverbot.)
In meiner Abwesenheit hatte Leo bei Mimi und Ronnie aufs Band gesprochen. Recht kurz und knapp und als wäre er ein vollkommen Fremder. »Hallo, mein Name ist Leo Schütz, und ich bitte Carolin um einen Rückruf, tagsüber unter der Nummer …«
Natürlich rief ich nicht zurück. Unser letztes Zusammentreffen hatte mich in mein tiefes schwarzes Loch zurückgeworfen, und jetzt, wo ich mich gerade mal wieder bis zum Rand heraufgehangelt hatte, wollte ich nicht riskieren, dass Leo mir erneut auf die Hände trat. Aber am nächsten Abend rief er wieder an, und weil Mimi gerade ihren abendlichen Schwangerschaftstest machte (sie war in der siebten Woche, aber sie traute dem Braten immer noch nicht so recht), ging ich ans Telefon.
»Leo Schütz, hallo Carolin. Ich hatte gestern schon mal angerufen.«
»Ja, ich weiß, Leo. Und ich weiß auch, wie du mit Nachnamen heißt.« Ich heiße zufälligerweise genauso.
»Du hast nach unserem Treffen leider nicht angerufen.«
»Ja, das ist richtig. Ich war für einige Zeit – im Krankenhaus.«
Ein Seufzer. »Warst du krank?«
Nein. Ich war einfach nur so zum Spaß im Krankenhaus. Brauchte mal ein bisschen Gesellschaft. Außerdem finde ich, es riecht da immer so lecker.
»Ah, ich verstehe«, sagte Leo, obwohl ich kein Wort gesagt hatte. » Diese Art Krankenhaus. Ich hoffe, jetzt geht es dir wieder besser. Ich würde mich gern mit dir treffen. Es gibt da doch einiges zu
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