In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Ruhe weinen konnte.
»Du hast deinen Kaffee nicht getrunken.«
»Zahlst du ihn bitte trotzdem? Aus Mitleid, meinetwegen.«Das war das Letzte, das ich hervorbrachte, bevor ich mich auf dem Absatz umdrehte und davonlief. Schon in der Tür nach draußen begannen die Tränen zu laufen.
»Fortuna lächelt,
doch sie mag nur ungern voll beglücken:
Schenkt sie uns einen Sommertag,
schenkt sie uns auch Mücken.«
Wilhelm Busch
Ist doch wahr. Irgendwie ist immer der Wurm drin.
Im Nachhinein betrachtet lassen sich die folgenden Monate recht schnell beschreiben, aber in Wirklichkeit verging jeder Tag für sich genommen sehr, sehr langsam. Das Treffen mit Leo hatte mir gezeigt, dass sich nicht alles in Wohlgefallen auflösen ließ. Es gab Dinge, die nicht wieder rückgängig zu machen waren – auch nicht mit einer noch so innig gemeinten Entschuldigung. Es gab Chancen, die einfach ungenutzt verstrichen und niemals wiederkamen. Weil Karl tot war, würden er und seine Kinder sich in diesem Leben nicht mehr annähern können, das hatte ich begriffen. Und auch, dass ich daran meinen Anteil hatte.
Heimlich setzte ich die Tabletten ab, erst mal nur probeweise. Tatsächlich konnte ich danach weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung meiner Gemütslage feststellen, aber dafür wurden meine Kopfschmerzen besser. Ich ging dennoch weiterhin zu Frau Karthaus-Kürten, schon weil ich mich inzwischen an sie gewöhnt hatte und meine Tage ja irgendwie rumkriegen musste. Im Februar hatte sieoffensichtlich ein neues Wochenendseminar belegt, denn sie benutzte mich schamlos als Versuchsperson für ihre revolutionäre »Jeden-Tag-eine-kleine-Freude«-Therapie.
Dazu legte sie einen Haufen rosafarbener Karteikärtchen zwischen uns und sagte munter: »Wir schreiben jetzt mal alle möglichen Kleinigkeiten auf, die Sie aufmuntern können. Und immer, wenn es Ihnen gerade nicht gut geht, nehmen Sie eine von den Kärtchen und tun, was da draufsteht. Verstehen Sie?«
»Im Prinzip schon«, sagte ich.
»Na, dann fangen wir doch mal an.« Sie nahm das erste Kärtchen, zückte ihren Stift und sah mich erwartungsfroh an. »Cappuccino mit extra viel Milchschaum, Zimt und Zucker! Nicht wahr? Das macht glücklich, wenn man den trinkt!«
»Ähm, ja«, sagte ich.
Frau Karthaus-Kürten schrieb mit schnörkeliger Schrift »Cappuccino«. Dann strahlte sie mich erneut an. »Und was noch? Ein Spaziergang! Warm eingemummelt durch den Schnee stapfen, bis sich die Wangen röten und der Blutkreislauf wieder mit reichlich Sauerstoff versorgt ist. Ja, das ist eine schöne Sache.«
Ich sah hinaus zum Fenster, wo die Welt wieder einmal im Schnee versank. Dieser Winter wollte einfach kein Ende nehmen.
Frau Karthaus-Kürten war schon beim nächsten Kärtchen. » Den Hund streicheln! Nicht wahr? Nichts ist beruhigender.«
Ich dachte an »Nummer zweihundertdreiundvierzig«, den ausgestopften Foxterrier, mit dem ich abends manchmal ausgiebige Gespräche führte, und nickte zustimmend. Aber meine Therapeutin schien mich ganz vergessen zu haben.
»Ein heißes Wannenbad mit Lavendelzusatz«, sagte sie juchzend. »Oder noch besser: Rosenduft!« Sie kam langsamrichtig in Fahrt. Ihre Zungenspitze klemmte seitlich zwischen den Lippen, während sie mit Feuereifer ein Kärtchen nach dem anderen vollschrieb. » Neue Unterwäsche kaufen und dabei nicht auf den Preis schauen. Einen Kurzurlaub am Meer machen. Barfuß über den Sand laufen. In den neuen Film mit Uma Thurman gehen und sich freuen, dass man ihr ähnlich sieht. Dem ganzen Körper ein Peeling aus Salz, Honig und Olivenöl verpassen und sich anschließend kalt abduschen. Sich von Viola endlich den Namen der Massagepraxis geben lassen und einen Termin buchen. Die Hopper-Ausstellung besuchen, bevor sie wieder schließt. Richtig guten Versöhnungssex haben. Am brennenden Kachelofen ein Glas Rotwein trinken und sich dabei die Füße massieren lassen. Mit einer guten Freundin – nicht Tina!! – Schuhe kaufen. Mit dem Kind Popcorn machen. Sich das Frühstück ans Bett bringen lassen … – ach, macht das nicht Spaß? Schon das Planen all dieser herrlichen Dinge macht glücklich, finden Sie nicht?«
»Doch«, sagte ich und fragte mich wieder einmal, warum die Krankenkasse das hier klaglos bezahlte, sich aber weigerte, die Kosten für die professionelle Zahnreinigung zu übernehmen, die ich mir einmal im Jahr gönnte.
Als die Zeit um war, überreichte mir Frau Karthaus-Kürten das Päckchen mit den Kärtchen mit
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