Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
Vom Netzwerk:
Groß befindet sich auf der geschlossenen Abteilung. Sie hat ihr Nachthemd in Streifen gerissen und versuchte sich damit zu erhängen.« Er hörte den Ärger in ihrer Stimme. »Das Auftauchen dieses Fotos, das Sie ihr ohne jede Vorwarnung vorgelegt haben, hat unsere Arbeit von Jahren zunichtegemacht. Aber das muss ich Ihnen nicht erzählen. Die Folgen haben Sie ja unmittelbar zu spüren bekommen.«
    »Frau Groß ist schon länger Ihre Patientin? Woran leidet sie?«
    »An einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Anteilen. Sie ist seit zehn Jahren, mit Unterbrechungen, in Behandlung.« Er hörte ein Seufzen. »Es ist nicht fair, wenn ich meinen Ärger über diesenRückfall ganz Ihnen anlaste. Die ersten Anzeichen gab es schon vor einigen Wochen, als Frau Groß Bertram Heckeroth über den Weg gelaufen ist.«
    Dühnfort horchte auf. »Wann und wo war das?«
    »Vor etwa vier oder fünf Wochen, in einem Café am Wiener Platz. Sie hat ihn unter den Gästen erkannt und sofort das Lokal verlassen.«
    »Wie stand sie zu Bertrams Vater, hat sie ihn gehasst?«
    »Diese Phase war bereits vorüber, als sie meine Patientin wurde.«
    »Aber das Zusammentreffen mit Bertram hat sie beunruhigt?«
    »Es hat die Ereignisse von damals wieder aufgewühlt, was die Rückkehr der Schlafstörungen zur Folge hatte. Wir waren gerade dabei, das in den Griff zu bekommen, als Sie ihr das Foto gezeigt haben.« Wieder seufzte die Ärztin. »Haben Sie sonst noch Fragen?«
    »Würden Sie mich benachrichtigen, wenn es ihr bessergeht?« Dühnfort gab ihr seine Nummer.
    »Ich halte das für keine gute Idee.«
    »Ich habe den Mord an dem Mann zu klären, der Ihre Patientin damals vergewaltigt hat, und ich werde allen Hinweisen nachgehen. Das verstehen Sie sicher.«
    »Wenn Sie glauben, Sabine Groß hätte damit etwas zu tun, dann irren Sie. Sie richtet ihre Aggressionen gegen sich selbst.«
    »Ach ja. Aber nur dann, wenn sie nicht gerade mit Messern …«
    »Das war eine Affekthandlung.«
    Dühnfort rang ihr die Zusage ab, ihn zu informieren, sobald Sabine Groß stabil genug für ein Gespräch war. Dann verabschiedete er sich und wählte gleich daraufAlois’ Nummer. »Sabine Groß ist Bertram vor ein paar Wochen über den Weg gelaufen. Sie ist erkennungsdienstlich behandelt worden. Schnapp dir das Foto und zeig es in Bertrams Nachbarschaft herum. Ich will wissen, ob sie ihn getroffen hat.«
    Es war beinahe Mittag. Zeit für einen kleinen Imbiss und einen ordentlichen Espresso; beides gab es bei Segafredo am Rindermarkt. Dühnfort zog den Mantel an und verließ das Präsidium.
    Ein böiger Wind trieb den Regen durch die Fußgängerzone. Passanten duckten sich unter Schirmen und eilten im Schutz der Kaufhausfassaden dahin. In der Luft lag der Geruch nach erstem Schnee, und tatsächlich erspähte Dühnfort ab und an eine schmelzende Schneeflocke auf dem Asphalt. Er erreichte den Marienplatz, bog in die Rosenstraße ein, passierte das Bronzedenkmal Siggi Sommers, des ewigen Spaziergängers mit Zeitung unterm Arm, und betrat zwei Minuten später das winzige Stehcafé. Drinnen drängten sich die Gäste, froh, diesem Mistwetter kurzfristig entkommen zu sein. Es war warm, und die Luft roch nach feuchten Mänteln.
    »Ciao, Tino«, grüßte Marcello, während er einem Gast eine Tasse Cappuccino reichte. »Lange nicht gesehen.« Dühnfort knöpfte den klammen Trenchcoat auf und bestellte einen Espresso doppio und ein Tramezzino mit Mortadella. Vor ihm lag eine Zeitung. Er blätterte darin, legte sie aber wieder beiseite. Die Sache mit Sabine Groß gefiel ihm nicht. Bertram war ihr über den Weg gelaufen, die Erinnerung an die Vergewaltigung und das Scheitern ihrer Anzeige waren wieder an die Oberfläche getrieben. Wer wusste schon, ob das nur Schlafstörungen zur Folge gehabt hatte?
    Marcello schob eine dickwandige Tasse über den Tresen und holte eine Dose mit Billingtons Unrefined Dark Muscovado Sugar hervor, den Dühnfort bevorzugte. »Espresso multikulti.« Marcello bleckte die Zähne.
    Dühnfort rührte zwei Löffel des nach Feigen riechenden Zuckers in den Espresso. Allein der Duft war schon belebend. Er schloss die Augen und schlürfte in kleinen Schlucken den tiefschwarzen Sud. Kurz darauf war das Tramezzino fertig. Marcello reichte ihm den Teller. Nach dieser Mahlzeit fühlte Dühnfort sich gestärkt. Er kramte in seiner Geldbörse nach Münzen und schob sie über den Tresen.
    »A domani.«
Marcello jonglierte mit drei Tassen.

Weitere Kostenlose Bücher