In Zeiten der Flut
hellerleuchtete Insel. Chu lehnte mit einem Glas in der Hand an der Wand, darauf bedacht, nicht lauter zu lachen als die anderen. Es roch nach gebratenem Schweinehirn und altem Linoleum. Unter dem Tisch wedelte Anubis geräuschvoll mit dem Schwanz. Le Maries Frau deckte gerade den Tisch ab.
Der Gastwirt schleppte noch zwei Krüge an, die Hälfte Blut, die andere gegorene Stutenmilch. »Trinken Sie noch ein Glas! Das muß alles weg!« Der magere alte Mann setzte Mintouchian ein Glas vor. Mit einem schwachen, schiefen Lächeln unterbrach der Puppenspieler seine Vorstellung und trank. Er nahm einen tiefen Schluck, von dem am unteren Rand seines Schnurrbarts ein flüchtiger Schaumstreifen zurückblieb. Während andere Gäste ihre Gläser hochhielten, machte er Daumen und Faust wieder gefechtsbereit.
»Wollen Sie denn nichts?«
»Nein, nein, ich bin pappsatt.«
»Probieren Sie doch mal! Wissen Sie überhaupt, was das im Norden kostet?«
Lächelnd hob der Bürokrat die Hände und schüttelte den Kopf. Als sich der alte Mann achselzuckend abwandte, schlüpfte er auf die Hinterveranda hinaus. Die Tür fiel ins Schloß, und Mintouchians Faust spie einen schlaffen, ermatteten Daumen aus.
Sie lachte in sich hinein. »Der nächste!«
Die Regentropfen waren wie Hammerschläge, so schmerzhaft waren sie auf der Haut. Der Bürokrat stand auf der dunklen Veranda und schaute durchs Fliegenfenster. Auf der Welt gab es nur eine einzige Farbe, weder Grau noch Braun, sondern etwas, das dazwischen lag. Ein jäher Windstoß teilte den Regen wie einen Vorhang und gab vorübergehend den Blick frei auf die Lastkähne, die am Fluß vor Anker lagen, dann verschwanden sie wieder. Anderthalb Häuser weiter hörte Cobbs Creek auf zu existieren.
Cobbs Creek, das waren Schweine und Holz. Die letzten Schweine waren bereits geschlachtet und hingen nun in den Räucherkammern, aber die Baumstämme trieben noch immer den Fluß zu den Sägewerken hinunter, die Ausbeute des letzten fieberhaften Holzschlags, bevor die Flut die Bäume in Tang verwandelte. Der Bürokrat schaute zu, wie der Regen den Schlamm kniehoch an die Schindelwände spritzte. Die aufgeweichte Erde verströmte einen schalen Geruch, der sich mit den Ausdünstungen der Tomatenstaude im Kräutergarten und der roten Ziegel mischte, mit denen der Weg an der Rückseite des Hauses gepflastert war.
Er fühlte sich traurig und einsam und konnte nicht aufhören, an Undine zu denken. Wenn er die Augen schloß, schmeckte er ihre Zunge, spürte er die Berührung ihrer Brüste. Die brennenden Kratzspuren auf seinem Rücken stachelten die Erinnerungen an. Er kam sich vollkommen lächerlich vor und war mehr als nur ein bißchen wütend auf sich selbst. Er war doch kein Schuljunge mehr; warum gingen ihm ihre Augen, ihre Wangen, ihr warmes, spöttisches Lächeln dann nicht aus dem Kopf?
Er seufzte, holte Gregorians Notizbuch aus der Aktentasche, blätterte darin. Eine neue magische Interpretation der Welt zeichnet sich ab, eine Interpretation nicht vom Standpunkt des Begreifens, sondern vom Standpunkt des Willens aus. So etwas wie Wahrheit gibt es nicht, weder im moralischen noch im wissenschaftlichen Sinn. Ungeduldig blätterte er weiter.
Was ist gut? Was immer das Machtgefühl stärkt, den Willen zur Macht und vor allem die Macht selbst. Als er den Satz noch einmal las, stand ihm der junge Gregorian vor Augen, der zweifellos hagere Hexenschüler, verzehrt von seiner unbedingten jugendlichen Gier nach Bedeutung und Anerkennung. Die Menschen sind meine Sklaven.
Irritiert vom naiven, prätentiösen Tonfall der Aphorismen, packte er das Buch wieder weg. Diese Sorte Jugendlicher kannte er nur allzu gut; es hatte mal eine Zeit gegeben, da er genauso gewesen war. Dann fiel ihm etwas ein, und er holte das Buch wieder hervor. Es kam eine ausführlich beschriebene Übung darin vor, welche Die Ouroborosschlange betitelt war. Er las die Anweisungen aufmerksam durch: Der Magier plaziert seine Rute im Becher der Gottheit. Die Magd ihrerseits ... Ja, jetzt, wo er die Allegorie verstand, war es die gleiche Technik, die Undine ihn gelehrt hatte.
Die Leute in der Küche lachten.
Der Bürokrat wünschte, der Tag wäre bereits vorbei, die Straßen wären wieder begehbar und er könnte sich davonmachen. Diese Stadt war eine einzige Enttäuschung gewesen. Die Archäologen, die hier gearbeitet hatten, waren verschwunden, die Grabungsstelle war abgedeckt und gesichert, sämtliche Spuren, die ihn zu Gregorian
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