INAGI - Kristalladern
stellte den Korb auf den Boden, bevor er sie an den Schultern fasste und leicht zu sich herumdrehte. Eindringlich musterte er sie. »Soll ich die Strebtrennung abbrechen lassen?« Sie schüttelte stumm den Kopf. »Bist du sicher?«
Wieder schüttelte sie den Kopf, noch immer ein wenig benommen. Zwischen den Brauen des Kiresh bildete sich eine Falte. Eine seiner Augenbrauen hob sich vielsagend. Ishira wurde vage bewusst, dass ihr Kopfschütteln auf seine zweite Frage im Widerspruch zu ihrer ersten Antwort gestanden hatte. Sie blinzelte. Was hatte er doch gleich gefragt? Ihr Unwohlsein war verschwunden, dafür kehrte der Schmerz in ihrem Rücken langsam zurück. Außerdem herrschte in ihrem Kopf ein wildes Durcheinander und sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. »Mir… war ein wenig schwindelig«, brachte sie schließlich heraus. »Aber jetzt geht es mir wieder gut.« Sie wartete darauf, dass er sie losließ, doch sein Griff lockerte sich nicht. Befürchtete er, dass sie wieder zusammensacken könnte?
Unvermittelt bohrten seine Augen sich in ihre. »Was ist passiert?«
Sein durchdringender Blick forderte eine Antwort. Einen Moment lang war Ishira versucht, ihm von ihrer Vision zu erzählen. Von dieser und der anderen, die sie in Oshue gehabt hatte. Aber wer würde ihr solch eine abstruse Geschichte abnehmen? Außerdem wollte sie nicht ausgerechnet mit Kiresh Yaren darüber reden. Sie war nicht sicher, worüber sie sich in seinem Fall mehr Sorgen machen sollte: dass er ihr glaubte oder dass er sie für verrückt hielt. »Nichts, Deiro«, beteuerte sie. »Mir war nur schwindelig, wirklich.«
Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich, als zweifelte er am Wahrheitsgehalt ihrer Worte. Er war ein scharfer Beobachter. Sie versuchte, sich aus dem Bann seiner Augen zu befreien, aber sie war nicht in der Lage sich zu rühren.
Endlich gaben seine Hände sie frei. »Wie du meinst.« Er erhob sich und sah mit unverhohlenem Ärger auf sie herab. »Wenn es dir also gut geht, mach dich wieder an die Arbeit!« schnappte er. »Dein Schützling wartet.«
Steif kehrte er an seinen Platz an der Stollenwand zurück. Sie starrte einen Moment auf seinen Rücken, bevor sie langsam den Kopf drehte. Der Hauer hatte in seiner Arbeit innegehalten und beobachtete sie verunsichert. Ishira zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung«, murmelte sie eher zu sich selbst, bevor sie den Korb einmal mehr auf ihre Schultern setzte und sich auf den Weg zu den Loren machte. Diesmal war der Schmerz auszuhalten.
Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während ihre Gedanken um ihre Vision kreisten. Also waren die Kristalladern tatsächlich alle miteinander verbunden. Wenn die Energie versiegte, würde das sämtliche Bergwerke auf der Insel betreffen – und auch alle übrigen Adern, die noch unentdeckt im Fels schlummerten.
Nein, nicht wenn: die Energie würde über kurz oder lang versiegen, dessen war Ishira sicher. Sie hatte es ganz deutlich gespürt. Die Schwäche nahenden Todes – genauso hatte es sich angefühlt. In ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Wie konnte etwas sterben, das gar nicht lebte? Was war der Kristall wirklich?
Immer mehr Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum: Was würde das Verlöschen der Energie bewirken? Würde es nur das Ende des Kristallabbaus bedeuten? Oder würden die Folgen weiter reichen? Wie war es überhaupt zu diesem Leck, durch das ein Großteil der Energie entwich, gekommen? War dafür dasselbe Ereignis verantwortlich, dass die Amanori aufgestachelt hatte? Nein, das passte nicht. Die Drachen hatten schon angegriffen, lange bevor die Energie schwächer wurde. Andererseits: wenn die Amanori so eng mit der Energie verbunden waren, wie Telan Mebilor glaubte und wie ihre Visionen zu bestätigen schienen, hatten sie vielleicht schon etwas gespürt, bevor es für die Menschen sichtbar wurde…
Ishira schloss ihre Hände fester um die Riemen des Tragekorbs. Sollte sie die Ader noch einmal anfassen und versuchen, mehr herauszufinden? Aber der Gesang der Geister, der mit der Energie floss, raubte ihr den Willen, machte sie schwach und wehrlos. Was, wenn sie sich beim nächsten Mal endgültig in ihrer Vision verlor und ihr Geist nicht zurückkehren konnte? Oder sie nicht rechtzeitig merkte, dass die Energie anstieg?
Sie blieb stehen und lehnte sich mit der Stirn gegen die kühle Felswand. Das hier war zu groß für sie, um allein damit fertig zu werden. Zu bedeutsam, um
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