INAGI - Kristalladern
Anreshir auch ihn im Dunkeln gelassen hatte. Empört kniff sie die Augen zusammen. Scherte es den Aufseher nicht, ob ein Mensch unnötig litt, wenn nur alles seinen geordneten Gang ging und kein Aufsehen erregt wurde? Oder hatte er sich schlicht nicht die Mühe machen wollen, einem Sklaven etwas zu erklären? Möglicherweise glaubte er aber auch gar nicht an ihre Fähigkeit und wollte bei dem jungen Hauer keine falschen Erwartungen wecken. Wieder überfielen Ishira Zweifel an ihrer Gabe. Angestrengt lauschte sie. Bis jetzt konnte sie die Energie nicht hören, aber sie waren auch noch nicht besonders tief im Berg. Sie zwang sich zur Ruhe. Die Kristallenergie konnte in Oshue nicht so viel anders klingen als in Soshime. Sie würde sie jeden Moment spüren. Hoffentlich. Es musste einfach so sein.
»Was ist hier eigentlich los?« brach es plötzlich aus Akoshi heraus. Ishira fuhr herum. Als wäre er über sich selbst erschrocken, dämpfte der junge Mann sofort seine Stimme, doch sein Tonfall blieb bitter. »Wieso wurde die Lotterie vorgezogen?« verlangte er zu wissen. »Wer bist du? Wieso wurdest du mir als Trägerin zugeteilt?«
Sie biss sich auf die Lippen. Irgendetwas musste sie antworten. Hilfesuchend sah sie zum Anreshir, doch der ließ sich in seiner Unterhaltung mit Rondar nicht stören.
Die Falte zwischen den Brauen des jungen Mannes vertiefte sich. »Willst du nicht mit mir reden? Oder darfst du es nicht?«
»Nein, das ist es nicht. Ich – « Gerade als Ishira zu einer Erklärung ansetzte, begann es um sie her zu raunen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Es war genau wie zu Hause. Mit dem Wispern der Energie kehrte ihre Zuversicht zurück. »Ich kann Shigen vorhersagen«, sagte sie, ohne dass auch nur noch die Spur eines Zweifels ihre Stimme trübte. »Deshalb hat der Hemak mir aufgetragen, die Hauer, die in seinem Hem die Adern trennen, vor den Energieausbrüchen zu warnen. Das ist der Grund, aus dem ich dich heute zum Kristall begleite, und aus demselben Grund ist auch die Lotterie früher angesetzt worden.« Wie von selbst verzogen sich ihre Lippen zu einem aufmunternden Lächeln. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Akoshi. Die Energie wird dir nichts anhaben.«
Der junge Mann starrte sie so fassungslos an, als hätte sie ihm soeben eröffnet, sie sei die Göttin des Berges.
* * *
Kanhiro fuhr sich mit dem Unterarm übers Gesicht. Seine Augen brannten vom Schweiß und der Wärme der Kristallader, die bis zu ihnen in den Gang strahlte. Während er noch überlegte, ob er eine kurze Pause einlegen und etwas trinken oder bis zur Mittagsrast warten sollte, kehrte Ishiras Bruder von den Loren zurück. Der Junge stellte seinen leeren Tragekorb an die Felswand und streckte sich. In dem Staub auf seiner Brust zeichneten sich dunkler die Rinnsale ab, die der Schweiß hinterlassen hatte. »Wie spät ist es? Ich bin am Verhungern.«
»Wann bist du das nicht?« spottete Kanhiro gutmütig, doch jetzt, da Kenjin es erwähnte, machte sich auch bei ihm ein leichtes Hungergefühl bemerkbar. »Na, ich würde sagen, lange kann es nicht mehr dauern, bis das Zeichen ertönt.«
Wie als Antwort schallte der helle Ton des Mittagsgongs durch den Stollen. Nur zu bereitwillig legte Kanhiro sein Werkzeug aus der Hand und folgte dem Beispiel von Ishiras Bruder, der sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden niederließ und den Deckel von seinem Busho hob. Kanhiro setzte sich neben ihn und griff nach seiner Wasserflasche. Das Wasser war nicht mehr besonders kühl, aber es löschte seinen Durst. Sein Vater nahm ihnen gegenüber Platz und verteilte die Löffel. Gerade hatte Kanhiro sich den ersten Bissen in den Mund geschoben, als er von irgendwo hinter sich aus dem Gang ein Knirschen vernahm. Das Geräusch war so leise, dass er es vermutlich überhaupt nicht wahrgenommen hätte, wenn sie nicht gerade alle geschwiegen hätten, doch es klang nichtsdestoweniger bedrohlich. Beunruhigt drehte er sich um und lauschte. Das Knirschen wiederholte sich. Es hörte sich an wie ein langgezogenes Stöhnen – als würde der Berg unter seinem eigenen Gewicht ächzen. Auf Kanhiros Armen stellten sich die Härchen auf.
»Was ist los?« fragte Kenjin mit vollem Mund.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Kanhiro angespannt. »Irgendetwas stimmt nicht.«
In einiger Entfernung rieselte Sand von der Decke. Togawa wurde blass. »Bei den Göttern, du hast Recht, mein Junge! Ich glaube, die Stollendecke gibt nach!«
Sie sprangen beinahe
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