INAGI - Kristalladern
Verzückung zu bersten drohte.
Und dann schlug die Energie wie eine Woge aus Licht über ihr zusammen.
* * *
So unvermittelt, wie er begonnen hatte, hörte der Steinregen wieder auf. In der folgenden Stille war nur Kenjins Wimmern zu hören.
Der Gang vor ihnen existierte nicht mehr. Selbst der dichte Staubschleier, der in der Luft hing, konnte die undurchdringliche Barriere aus Felsen nicht verbergen, die sich anderthalb Armlängen von ihnen entfernt bis beinahe zur Decke auftürmte. Nicht einmal ein Kind hätte sich durch den schmalen Spalt winden können, der noch offen war. Dennoch heftete Kanhiro seine Augen verzweifelt auf dieses Loch. Nicht nur, weil es ihre einzige Verbindung zur Außenwelt war, sondern weil er sich einzureden versuchte, dass es seinem Vater irgendwie gelungen war, auch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Dass Togawa wohlbehalten auf der anderen Seite ihres Gefängnisses stand und ihn jeden Moment fragen würde, ob alles in Ordnung war.
Doch jenseits des Walls rührte sich nichts.
Kenjins Weinen wurde lauter. »Hiro!« schluchzte er erstickt. »W-wo ist dein Vater?«
Gegen seinen Willen löste sich Kanhiros Blick jetzt doch von dem schmalen Spalt und glitt langsam und widerstrebend an den Felsen entlang nach unten, bemüht, die bittere Wahrheit so lange hinaus zu zögern wie möglich. In Bodenhöhe ragte etwas aus dem Steinwall heraus. Sekundenlang stierte er blicklos auf die staubbedeckte Hand, bis die Erkenntnis in seinen Verstand einsickerte. Seine Knie gaben unter ihm nach. »Koru.«
* * *
Akoshis Eltern verneigten sich so tief vor Ishira, dass ihre Hände ihre Knie berührten.
»Ich danke dir für das Leben unseres Sohnes«, sagte sein Vater mit zitternder Stimme, als er sich aufrichtete. »Wir stehen für immer in deiner Schuld.«
Seine Frau wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nickte. Ishira stand einfach nur stumm da, noch ganz im Banne dessen, was in der Mine geschehen war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es gleich am ersten Tag zu einem Anstieg der Energie kommen würde. Doch noch mehr beschäftigte sie, was sie kurz zuvor gesehen hatte. Diese – ja, was war es gewesen? Eine Vision? Jedenfalls etwas, das durch die Energie ausgelöst worden sein musste.
Die Bilder geisterten durch ihre Erinnerung, ohne sich richtig greifen zu lassen. Sie hatte das Gefühl gehabt, jemand, nein etwas anderes zu sein. Etwas, das sich ihrer Vorstellung entzog. Der vielstimmige Gesang war unglaublich viel intensiver gewesen als in Soshime. So, als wären die Stimmen mit ihrem eigenen Sein verschmolzen. Sie war beinahe vollkommen von der Musik aufgesogen worden und hätte um ein Haar zu spät erkannt, was die berauschende Verzückung, die ihren Geist überflutet hatte, bedeutete. Es war ihr gerade noch gelungen, Akoshi von der Ader wegzureißen, bevor die Energiewelle sie erreicht hatte. Zum Glück hatten keine Sprengrollen im Kristall gesteckt.
Ishira schauderte. Kanhiro hatte Recht. Es war zu gefährlich, die Ader zu berühren – selbst für sie. Aber noch etwas anderes gab ihr zu denken. Dieser unirdische Gesang war überschäumend lebendig gewesen, geradezu ekstatisch. Er hatte sie erquickt wie Wasser einen Verdurstenden. Nichts an ihm hatte an Zorn oder Wut denken lassen. Ließen die Geister die Energie wirklich aus Rache ansteigen? Oder hatte Shigen überhaupt nichts mit den Menschen zu tun?
Immer mehr Bergleute versammelten sich um sie und Akoshi wurde nicht müde zu schildern, wie Ishira ihn vor der Energie bewahrt hatte. Überall sah sie staunende, ehrfürchtige Gesichter. Ihre Wangen glühten. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewöhnt. Jedenfalls nicht in dieser Hinsicht.
»Ich habe doch gar nichts so Großartiges getan«, wehrte sie den Dank Akoshis und seiner Eltern ab, nachdem sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Ich habe nur die Aufgabe erfüllt, um derentwillen ich hergekommen bin.«
Akoshis Augen leuchteten voller Begeisterung. »Was redest du denn da?« rief er. »Ist es etwa nicht großartig, dass wir Shigen nicht mehr fürchten müssen? Du hast der Lotterie ihren Schrecken genommen, Ishira!«
Zu ihrer Verlegenheit gesellte sich ein Anflug von Stolz und ein winziger Hoffnungsschimmer. Konnte ihre Fähigkeit ihr tatsächlich eine Tür zu den Herzen der Inagiri aufstoßen? Zaghaft erwiderte sie Akoshis Lächeln.
Sein Vater öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, als sein Blick auf Rondar fiel, der sein Gespräch mit dem
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