INAGI - Kristalladern
Anreshir beendet hatte und neben Ishira getreten war. Er schwieg einen Moment und räusperte sich dann umständlich. »Bitte, sei auch in Zukunft um unser Wohlergehen besorgt«, bat er sie. Sein Tonfall klang auf einmal steif.
Ein paar der Umstehenden tauschten unbehagliche Blicke aus. Akoshis Mutter griff nach dem Arm ihres Sohnes. Langsam trat dieser einen Schritt von Ishira weg und wandte betreten den Kopf ab. Das aufgeregte Gemurmel ringsumher erstarb. Niemand schien mehr recht zu wissen, was er sagen sollte.
Ishiras Lächeln erstarb. Lag es nur an Rondars Gegenwart, dass sich alle plötzlich so distanziert verhielten? Oder war den Leuten hier gerade wieder eingefallen, dass sie ja eine Geishiki war und man ihr besser nicht zu viel Vertrauen und Herzlichkeit entgegenbringen sollte? Verbittert presste sie die Lippen zusammen und blickte zu Boden. Wie es schien, hatte sich an ihrer Situation nicht das Geringste geändert. Der Türspalt hatte sich ebenso schnell wieder geschlossen wie er sich geöffnet hatte.
Als Rondars Hand in ihrem Rücken sie sanft zum Weitergehen drängte, war Ishira geradezu erleichtert, die Versammlung hinter sich zu lassen.
»Ein eindrucksvolles Schauspiel, diese Energiewelle«, sagte der Bakouran wenig später beim Essen. »Ich hatte mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen können, wie es sein würde. Aber nicht einmal, als der Kristall aufleuchtete, konnte ich die Schwingungen oder diesen Gesang wahrnehmen, von denen du gesprochen hast. Ich frage mich, wie es kommt, dass du sie als einzige spüren kannst.«
Ishira starrte in ihre Teeschale, ohne zu antworten. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander: die unheimliche Vision, Shigen, der plötzliche Stimmungsumschwung unter den Bergleuten, der sie in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt hatte.
Immer wieder fragte sie sich, ob die Bergleute nicht doch vielleicht nur Rondars wegen so nervös geworden waren und wie sie selbst sich im umgekehrten Fall verhalten hätte. Hätte sie nicht gleichfalls Vorsicht walten lassen? Wer gab in Anwesenheit eines Gohari schon seine wahren Gedanken und Gefühle preis? Aber im Grunde spielte es gar keine Rolle, ob sie selbst der Stein des Anstoßes war oder ihr Begleiter. Selbst wenn die Inagiri endlich über ihre Abstammung hinweg sehen sollten, würde Rondars Gegenwart oder die eines anderen Gohari verhindern, dass sie mit den Bergleuten in den anderen Siedlungen Kontakte knüpfte. Dass sie nicht im Dorf übernachtete, sondern im Fort, trug zusätzlich dazu bei, dass sie sich den Bergleuten eher entfremdete als annäherte. Wie es schien, lagen einsame Monde vor ihr.
»Leben deine Eltern eigentlich noch?« drang Rondars Stimme durch ihre Gedanken.
Abgelenkt sah Ishira auf. Er musste die Frage aus einem bestimmten Grund gestellt haben. Nahm er an, ihre Fähigkeit hätte etwas mit ihrer Herkunft zu tun?
Sie zögerte kurz, bevor sie sich entschloss, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Früher oder später würde er sowieso danach fragen. »Das kann ich Euch leider nicht sagen, Deiro. Ich wurde als Baby ausgesetzt und kenne meine leiblichen Eltern nicht. Meine spätere Ziehmutter fand mich in der Nähe des Dorfes in einem Korb im Uferschilf, als sie morgens am Fluss Wasser holen wollte.«
Kinomi hatte ihr erzählt, sie habe sie sofort ins Herz geschlossen, als sie ihr verweintes Gesicht sah. Sie und ihr Mann hätten sich schon seit Jahren ein Kind gewünscht und Ishira wäre für sie die Erhörung ihrer Gebete gewesen. Nun hatte ihre frischernannte Ziehmutter jedoch nicht gewusst, wie sie ein Baby ernähren sollte, da sie natürlich keine Milch gehabt hatte. Schließlich hatte sie Ishira zu ihrer besten Freundin gebracht, die drei Monde zuvor einem Jungen das Leben geschenkt hatte. So kam es, dass Togawas Frau Kikuri nicht nur ihren eigenen Sohn Kanhiro gestillt hatte, sondern eine Weile lang auch Ishira. Betrachtete man die Dinge aus diesem Blickwinkel, war er in gewisser Weise tatsächlich ihr Bruder.
Kiresh Rondar kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ein Findelkind? Das ist ungewöhnlich. Hat deine Ziehmutter damals gemeldet, dass sie dich gefunden hatte?«
Ishira nickte. »Sie tat es nicht gern, weil sie Angst hatte, die Kireshi könnten mich ihr wegnehmen, aber noch mehr fürchtete sie eine Bestrafung, falls die Gohari annehmen sollten, dass sie absichtlich ein Mischlingskind verschwiegen hatte. Also ging sie ins Lager, aber dort war man an der Geschichte nicht besonders interessiert.
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