INAGI - Kristalladern
fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass er und Kenjin im einen Moment friedlich mit seinem Vater zusammengesessen hatten und im nächsten die Welt um ihn herum zusammengefallen war. Seinem ärgsten Feind hätte er nicht die entsetzlichen Stunden gewünscht, in denen er und Kenjin hilflos zwischen den Felsen eingeschlossen gewesen waren und direkt vor ihm unter all den Steinen sein Vater begraben lag. Sie hatten nicht das Geringste tun können – weder für Togawa noch für sich selbst. Ihr Werkzeug war ebenfalls verschüttet gewesen und selbst wenn sie die Felsen mit bloßen Händen hätten bewegen können, hätte es keinen Platz gegeben, um sie aus dem Weg zu schaffen. Sie hatten kaum ihre Arme ausstrecken können, ohne an die Wände zu stoßen, und der Boden war mit kleineren und größeren Steinen übersät gewesen, die sie zum Stolpern brachten. Es war, als wären sie lebendig eingemauert.
Als einer der Reshiri entdeckte, was passiert war, hatte er Bergleute aus dem Abbaugebiet geholt, die von der anderen Seite damit begonnen hatten, die Gesteinsmassen wegzuräumen und den Gang frei zu legen. Spät am Abend hatten sie den Spalt so weit verbreitert, dass es Kanhiro und Kenjin möglich gewesen war, aus ihrem Gefängnis zu klettern. Doch erst heute gegen Mittag hatten sie die Leiche seines Vaters bergen können. Den Anblick des zermalmten Körpers würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
Neben sich hörte er ein Schluchzen. Zwei Arme legten sich fest um seine Taille. »Er wird mir so fehlen«, weinte Ishiras Bruder. »Warum müssen alle Menschen sterben, die wir lieben, Hiro?«
Kanhiro sah auf seinen wirren Schopf, der sich an seine Schulter drückte. »Ich weiß es nicht, Kenjin«, erwiderte er leise. »Ich weiß nicht, warum die Götter so viel Leid geschehen lassen.«
Kenjins Tränen benetzten sein Kandi. Nach Hagares Tod hatte der Junge in Togawa eine Art Ersatzvater gesehen. Jetzt gab es niemanden mehr. Er sah genauso verloren aus, wie Kanhiro selbst sich in diesem Augenblick fühlte. Automatisch legte er Ishiras Bruder den Arm um die bebenden Schultern. Er war froh darüber, dass der Junge bei ihm war. Kenjin davon abzuhalten, in Panik zu geraten, hatte ihm geholfen, gegen seine eigene Verzweiflung anzukämpfen. Und es tat gut, seine Schlafkammer mit ihm zu teilen. Die Stille im Haus wäre sonst kaum zu ertragen gewesen.
Was Kanhiro jedoch beinahe ebenso zusetzte wie der Verlust seines Vaters, war das Gefühl vollkommener Machtlosigkeit. Als Kind hatte er untätig zusehen müssen, wie seine Mutter starb, und jetzt hatte er erneut nur hilflos dagestanden, als ihm auch Togawa genommen wurde. Bitter fragte er sich, was ihm all seine bisherigen Vorsätze und Schwüre genützt hatten. Solange keiner von ihnen etwas tat , würden die Inagiri auf Gedeih und Verderb den Gohari ausgeliefert bleiben. Daran änderte auch Ishiras Gabe nichts. So einzigartig sie war, konnte sie die Bergleute doch nur vor einer der tödlichen Gefahren des Kristallabbaus bewahren.
Kapitel VIII – Kanhiros Entschluss
AUF DEM WEG zu ihrem nächsten Ziel machte Rondar sich daran, Ishira das Reiten beizubringen. In Oshue hatte er darauf bestanden, dass sie jeden Abend nach dem Essen einige Zeit mit Lesha verbrachte, damit die Stute sich an sie gewöhnte. Am ersten Tag hatte er Ishira mit in den Stall genommen, aber die anderen Pferde waren sofort dermaßen unruhig geworden, dass der Stallbursche alle Hände voll zu tun gehabt hatte, sie wieder zu beruhigen. Rondar hatte einsehen müssen, dass es keinen Zweck hatte, und die Stute von da an allein aus dem Stall geholt.
Es war nicht leicht gewesen, Leshas Vertrauen zu gewinnen. Immer wieder hatte Ishira sich ihr langsam und vorsichtig genähert, auf sie eingeredet und sie mit Leckereien bestochen, die der Bakouran ihr gegeben hatte. Sie hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, dass Lesha sie jemals akzeptieren würde, als die Stute es endlich zugelassen hatte, dass Ishira sie berührte. Es war unbestreitbar ein großartiger Moment gewesen, das seidig glatte Fell des Pferdes zu streicheln.
Aber in den Sattel zu steigen war eine ganz andere Sache. Als Rondar nach der Mittagsrast verkündete, dass sie es einmal probieren sollte, sank Ishira das Herz in die Kniekehlen. In ihrer Fantasie sah sie das Pferd in wilder Jagd mit ihr durchgehen und sich selbst mit zerschlagenen Knochen auf dem Boden liegen.
Der Kiresh schmunzelte. »Nun sieh mich nicht an wie ein
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