INAGI - Kristalladern
mehr als Ausbilder tätig war. Vielleicht hatte ihn das Geld gelockt. Als Leibgardist wurde er sicher gut entlohnt. Aber irgendwie machte Rondar nicht den Eindruck, dass ihm Geld so viel bedeutete.
Von draußen drangen Stimmen herein. Die Tür zur Gaststube wurde schwungvoll geöffnet und eine Gruppe Aufseher ergoss sich lachend und plaudernd in den Raum. Nach einem kurzen Blick in ihre Richtung setzten sie sich an einen großen Tisch in der Nähe.
»Schätze, der Anreshir kommt auch gleich«, mutmaßte Rondar. »Ich habe mit ihm noch etwas wegen der Lotterien zu besprechen.«
Erstaunlicherweise verstand Etan den Wink. Er leerte seine Schale und erhob sich. »Dann will ich Euch nicht länger aufhalten, Seresh. Wir werden uns in den nächsten Tagen ohnehin noch öfter über den Weg laufen, denke ich.«
»Mit Sicherheit. Ich danke Euch für die Einladung, Etan«, erwiderte Rondar. »Es hat mich gefreut zu hören, dass einige meiner Schüler ihren Weg gemacht haben.«
* * *
Am nächsten Morgen folgte Ishira ihrem Begleiter mit gemischten Gefühlen zum Haus des Heilens. Von den Reshiri im Gasthaus hatten sie erfahren, dass der Oberaufseher mit seiner Familie zu Besuch bei seinen Eltern war und frühestens in zwei Tagen zurückerwartet wurde. Daraufhin hatte Rondar ihr beim Frühstück eröffnet, dass er vorhatte, diesen Mebilor zu treffen, den er schon lange zu kennen schien. Außerdem wollte er den Heiler bei dieser Gelegenheit mit ihr bekannt machen. Trotz seiner Versicherung, dass Telan Mebilor ihr höchstens einige Fragen stellen würde, war Ishira plötzlich mulmig zumute. Mochte sie auch noch so neugierig sein, hätte sie in diesem Moment doch eindeutig das Bergwerk vorgezogen.
Das Haus des Heilens war ein lang gestreckter Steinbau, wie Ishira ihn aus Soshime kannte. Über der doppelflügeligen Tür waren mit grüner Farbe zwei Schriftzeichen aufgemalt, die das Gebäude vermutlich als Ort des Heilens auswiesen. Der kleine Vorraum dahinter war bis auf einige Stühle an der rechten Wand leer. Eine Tür auf der linken Seite stand halb offen und gestattete den Blick in einen großen, nüchternen Saal, in dem zwei Reihen Betten standen. Dazwischen versahen mehrere weißgekleidete Gohari ihren Dienst, die nicht viel älter sein konnten als Ishira selbst.
Am Ende des Raumes saß ein älterer Gohari neben einem der Betten und sprach eindringlich auf den Patienten ein, der dort lag. Er trug ein langes weißes Untergewand und einen etwas kürzeren dunkelgrünen Überwurf mit purpurner Borte, der auf dem Rücken mit einem Emblem in Purpur, Blau und Gold bestickt war. Ishira erkannte ihn sofort als Heiler. Allerdings hatte sie bisher geglaubt, alle Heiler hätten kahl rasierte Schädel. Dieser jedoch trug die Haare ähnlich wie die Kireshi hochgebunden. Er musste besagter Mebilor sein, denn Rondar steuerte leise durch den Saal hindurch auf ihn zu.
Ishira folgte ihm mit einigen Schritten Abstand. Die bedrückende Atmosphäre des Raumes – die langen Bettenreihen, der Geruch nach Kräutern und Salben, gemischt mit Blut und menschlichen Ausdünstungen, die Schmerzlaute und leisen Schluchzer – weckte ungewollt Erinnerungen an ihre Mutter. Sie sah sie wieder in einem dieser Betten liegen – so schwach, dass sie kaum ihre Hand hatte heben können, und mit vom Fieber geröteter Haut. Sie war Ishira winzig klein vorgekommen, wie sie beinahe in den weißen Laken verschwunden war. Die Heiler hatten ihr nicht helfen können. Es gab keine Heilung für den Kristallhusten. Als einziges hätte es Kinomi retten können, wenn sie nicht mehr in der Mine hätte arbeiten müssen, als sich die ersten Anzeichen der Krankheit zeigten. Bilar hätte man vielleicht sogar bitten können, sie als Sortiererin einzusetzen, doch Henroth hatte das Leben eines Sklaven weniger als nichts bedeutet. Er hätte sie höchstens noch mehr schikaniert. Kinomis Husten und die Schmerzen in ihrer Brust waren immer schlimmer geworden, bis sie kaum noch Luft bekam, und zuletzt hatte das Fieber sie ausgebrannt wie ein inneres Feuer.
Die Vergangenheit zerrte mit unerwarteter Heftigkeit an Ishiras Herz und sie blinzelte verstohlen eine Träne fort.
»Seresh!« rief da von rechts eine etwas heisere Stimme verblüfft aus. »Was führt dich denn hierher?«
Rondar blieb abrupt stehen und drehte sich nach dem Sprecher um. »Yaren!« In diesem einen Wort lagen so viel Überraschung, Besorgnis und Freude, dass Ishira unwillkürlich zu dem jungen Mann hinübersah,
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