INAGI - Kristalladern
Gefühl, die Wirklichkeit würde sich verschieben und sie sich in diesem Augenblick selbst im Innern der Erde befinden.
Voller Unruhe eilte Ishira auf das Ei zu, das am Ende der kleinen Höhle in einem Bett aus Moos und aufgehäufter Erde lag. Einen Schritt vor dem Gelege erstarrte sie. Wie betäubt hing ihr Blick an der Schale, die über und über von Rissen durchzogen war. Bläulicher Eidotter war heraus gesickert und hatte sich in einer Lache auf dem unebenen Felsboden gesammelt. Im Schein einer freiliegenden Kristallader, die von hinten gegen das Ei strahlte, sah Ishira im Innern der durchscheinenden Schale den Drachenembryo. Er rührte sich nicht und mit unumstößlicher Gewissheit wusste sie, dass er tot war. Das Ei war zu früh gesprungen. Langsam streckte sie ihre Klaue aus und fuhr über die zerstörte Hülle, die das Baby umschloss. Ihr Baby. In ihrem Herzen öffnete sich ein bodenloser Abgrund aus Leere und Verzweiflung, der sich nach und nach mit einem verzehrenden Verlangen nach Rache füllte. Sie wollte, dass diejenigen, die die Schuld am Tod ihres Kindes trugen, ebenso litten wie sie. Sie wollte ein Leben für ein Leben. Sie richtete sich auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus, in dem all ihr Zorn und Schmerz lagen.
Hinter ihr flatterte eine Schar aufgeschreckter Vögel auf. Kräftige Arme schlossen sich um ihre Schultern. Kanhiro zog sie an seine warme Brust und hielt sie fest. Ishira klammerte sich an ihn. Hatte sie etwa laut geschrien?
»Tut mir Leid, Shira«, sagte ihr Freund erschüttert. »Wenn ich geahnt hätte, wie sehr es dich mitnimmt, hätte ich dich nicht gleich heute hierher gebracht. Es war bestimmt alles zu viel auf einmal.«
»Mach dir keine Vorwürfe«, wehrte sie heiser ab, während sie versuchte, ihre Benommenheit abzuschütteln. »Es ist nicht deine Schuld. Es hatte auch nicht direkt etwas mit dem Tod deines Vaters zu tun. Ich sehe neuerdings am helllichten Tag seltsame Dinge.«
Er sah sie verwirrt an. »Was für Dinge?«
Ishira erzählte ihm von ihren Halluzinationen. »Glaubst du, sie hängen mit der Kristallenergie zusammen? Ich gebe zwar zu, dass ich auch früher schon lebhaft geträumt habe, aber nicht so.«
Kanhiro schürzte die Lippen. »Du meinst, die Energie gaukelt dir all diese Bilder vor? Aber dürftest du diese Träume dann nicht nur in der Mine haben?«
»Vielleicht hat sie eine langanhaltende Wirkung.« Sie legte den Kopf an seine Schulter, um die plötzliche Angst zu überspielen, die Energie könnte sich wie ein schleichendes Gift in ihr einnisten und ihren Geist beherrschen, bis sie Traum nicht mehr von Wirklichkeit unterscheiden konnte. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Ishira beobachtete, wie die Gebetsbänder träge hin und her wehten. Es war zu real , dachte sie. Ich habe die Eierschale unter meinen Fingern gespürt, genau wie ich jetzt Kanhiros Arme spüre, und ich hätte kaum entsetzter sein können, wenn es mein eigenes Baby gewesen wäre. Doch noch verstörender war, dass sie den Drachenembryo tatsächlich als ihr Kind betrachtet hatte.
»Soll ich dir was sagen, Shira?« meinte ihr Freund schließlich leise. »Was ich nach Korus Tod gedacht habe, war ganz ähnlich wie das, was du eben geträumt hast. Erst wollte ich es nicht wahrhaben, dann war ich verzweifelt und zu guter Letzt habe ich einen Entschluss gefasst.«
Vorahnung machte sich als plötzliche Kälte in Ishiras Gliedern bemerkbar. Sie drehte den Kopf, um Kanhiro anzusehen. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er sie mit dieser Bemerkung nicht nur von ihren Grübeleien ablenken wollte. »Was meinst du damit?« fragte sie wachsam, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.
Er fuhr sich etwas unsicher durch die Haare. »Vielleicht ist hier nicht gerade der beste Ort, um davon anfangen, aber wer weiß, wann wir das nächste Mal unter uns sind, und unsere Ahnen werden uns wohl kaum verraten.« Verstohlen sah er sich nach allen Seiten um, doch es war kein Mensch in der Nähe, der sie hätte belauschen können. Sein Blick kehrte zu Ishira zurück und hielt sie fest. Der Funke, der in seinen Augen aufglomm, ließ sie schlucken. »Ich will gegen die Gohari kämpfen, Shira. Um unsere Freiheit.« Seine Stimme war nicht weniger eindringlich als sein Blick.
Augenblicklich verwandelte sich die Kälte in ihren Knochen in glühende Hitze, die sich wie ein Feuersturm durch sie hindurch fraß. Ein Aufstand? War er übergeschnappt? Als sie zu
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