INAGI - Kristalladern
berichtete, kniff er ablehnend die Augen zusammen. »Du scheinst auf einmal eine ganz schön hohe Meinung von den Gohari zu haben«, murrte er.
»Nicht von allen«, widersprach sie. »Aber Rondar und Mebilor sind keine schlechten Menschen. Ich denke, es wäre falsch, sie alle über einen Kamm zu scheren.«
»Ach, kennst du die Eroberer schon so gut?«
»Kenjin«, mahnte Kanhiro. »Du kannst deiner Schwester keinen Vorwurf daraus machen, dass sie eine gewisse Nähe zu den Gohari aufgebaut hat. Sie verbringt eben gezwungenermaßen viel Zeit mit ihnen. Außerdem sind die Eroberer natürlich nicht alle schlechte Menschen. Das ändert aber nichts daran, dass wir ihre Sklaven sind. Sie interessieren sich nur für uns, solange wir nützlich für sie sind. Das darfst du nie vergessen, Shira.«
Sie sah wohl nicht besonders überzeugt aus, denn er beugte sich vor und strich ihr leicht über die Wange. Trotz der sanften Berührung war sein Blick eindringlich. »Versprich mir, dass du dich nicht zu eng an diesen Rondar bindest«, bat er sie. »Ich möchte nicht, dass du eines Tages enttäuscht wirst – und das würde zwangsläufig geschehen.«
Das Wissen, dass er sich Sorgen um sie machte, sandte einen Strom von Wärme durch ihre Adern. Und im Grunde ihres Herzens wusste sie auch, dass er Recht hatte. Egal, wie freundlich und aufmerksam Rondar oder Mebilor sich ihr gegenüber verhielten, würden sie sie niemals als ebenbürtig betrachten. Die Gohari mochten nicht zwangsläufig ihre Feinde sein, aber das machte sie noch lange nicht zu etwas anderem. »Ich werde auf mich aufpassen«, versicherte sie Kanhiro.
Er ließ seine Hand noch einen Moment länger an ihrer Wange ruhen, bevor er sie zurückzog und ihnen Tee nachschenkte. »Mir ist aufgefallen, dass du gar nichts über die anderen Siedlungen erzählt hast«, sagte er währenddessen. »Waren deine Begegnungen mit den Bewohnern so unerfreulich?«
Ishira seufzte. »Wie man’s nimmt. Ehrlich gesagt, hatte ich gar nicht so viel Kontakt zu ihnen. Der Hemak hat angeordnet, dass ich außerhalb Soshimes nicht mehr als nötig mit den Inagiri zusammenkomme und vor allem nicht allein.«
Kenjin blieb der Mund offen stehen. »Du sollst nicht mit den Leuten in den anderen Dörfern sprechen? Wieso nicht?«
Kanhiros Mund verhärtete sich. »Ich kann mir schon denken, warum«, sagte er, bevor Ishira antworten konnte. »Die Gohari wollen nicht, dass wir erfahren, was in anderen Siedlungen vor sich geht. Vor allem soll deine Schwester keine Beziehungen knüpfen. Je weniger wir von der Insel und voneinander wissen, desto leichter sind wir zu beherrschen. Das ist genau, was ich meine: in den Augen der Gohari sind wir nur Werkzeuge und sie werden alles dafür tun, damit das so bleibt.«
Kenjin schlug mit der Hand hart auf die Bank und verschüttete dabei beinahe seinen Tee. »Und da sagst du, die Gohari sind nicht unsere Feinde, Nira? Sie behandeln dich doch sogar noch schlimmer als eine Sklavin! Du kannst keinen Schritt ohne diesen Rondar tun, darfst die Lager nicht verlassen, nicht mit deinen eigenen Leuten reden. Wenn du mich fragst, bist du ihre Gefangene! Oder wie nennst du das?«
Ishira schwieg betroffen. Sie konnte ihrem Bruder nicht widersprechen – wusste sie doch selbst nur zu allzu gut, dass ihre Aufgabe schnell zum Alptraum geraten könnte, wenn ihr Begleiter weniger wohlwollend wäre als Rondar. Und selbst ihm würde niemals in den Sinn kommen, dem Befehl des Hemaks zuwiderzuhandeln. War er also doch ihr Feind? Einfach deswegen, weil er auf der anderen Seite stand? Doch gegen alle Vernunft konnte Ishira sich nicht dazu bringen, ihn als solchen zu sehen.
* * *
Müde fuhr Yaren sich mit der Hand über die Augen und blinzelte in die Glut seines Lagerfeuers. Seit er Ebosagi verlassen hatte, hatte er nicht einen einzigen Drachen zu Gesicht bekommen. Nicht einmal eine Spur hatte er gefunden. Nichts. Es war, als wollten die Götter ihn verhöhnen.
Langsam drehte er den aus ein paar Ästen improvisierten Spieß, auf dem der Uboshi steckte, den er am Nachmittag erlegt hatte. Das Fleisch war beinahe gar und duftete nach den Wildkräutern, mit denen er es eingerieben hatte. Doch eigentlich hatte er überhaupt keinen Hunger. Seit Tagen schon fühlte er sich leer und ausgelaugt. Ohne ein klares Ziel vor Augen, ohne den Jagdtrieb, der die Herrschaft über seinen Geist übernahm und alles andere ausblendete, musste er immerzu an Rondar denken. Weshalb hatte er am Wasserfall nicht
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