INAGI - Kristalladern
wenn man eine Hand voll Schnee zusammenpresst, wird er steinhart.«
»Und was passiert mit dem Schnee, wenn der Frühling kommt?«
»Er schmilzt. Soll heißen, wenn es wärmer wird, löst er sich auf und wird zu Wasser.«
Sie sah ihren Begleiter fasziniert an. Was für ein wundersames Land.
Während ihrer Unterhaltung hatten sie ihre Schritte zur anderen Seite des Hafens gelenkt. Hier schaukelten Dutzende kleiner Schiffe an langen Seilen träge auf dem Wasser. Rondar erklärte ihr, dass es die Boote der Fischer waren, mit denen diese morgens in aller Frühe aufs Meer hinaus fuhren, um Fische und anderes Meeresgetier zu fangen. Im Schatten der Stadtmauer standen eine Reihe Lagerhäuser und überdachte Stände, an denen der Fang gleich zubereitet wurde. Einige der Köche verschwanden beinahe in den Dampfschwaden, die aus den großen Töpfen und Pfannen aufstiegen. Die Düfte, die zu ihnen herüber wehten, machten Ishira den Mund wässerig. Vor den Ständen waren in zwei langen Reihen Tische und Bänke aufgestellt. Die meisten Plätze waren noch frei.
In ihrer Nähe lehnte ein Junge mit zerrissener Hose und nacktem, gebräuntem Oberkörper an einem der Holzpfeiler, an denen die Schiffe vertäut waren, und knabberte geröstete Kerne aus einer kleinen Papiertüte. Er war etwa in Kenjins Alter. Vor sich auf einem dunkelblauen Tuch hatte er merkwürdige Gebilde ausgebreitet, von denen einige entfernt Ähnlichkeit mit Schneckenhäusern besaßen, nur dass sie größer waren als Ishiras Faust. Unwillkürlich blieb sie stehen, um sie sich anzusehen.
Der Junge grinste sie an und hob eines der seltsamen Schneckenhäuser vom Boden auf. Es war beinahe weiß und glänzte wie Telan Mebilors Teeschalen. »Du kommst nicht von der Küste, stimmt’s? Du siehst nämlich so aus, als hättest du noch nie Muscheln gesehen.« Er hielt ihr das Schneckenhaus hin. »In dieser hier kannst du das Rauschen des Meeres hören. Halt sie dir mal ans Ohr.« Ishira zögerte. »Keine Angst«, lachte der Junge. »Den Krebs, der früher drin gewohnt hat, gibt’s nicht mehr.«
Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber als Rondar ermutigend nickte, streckte sie die Hand aus und nahm das Schneckenhaus entgegen. Es war schwerer als gedacht. Wie hatte der Junge es genannt? Muschel? Ishira bewunderte die schimmernde, gewundene Oberfläche. Konnte man im Innern wirklich das Meer hören? Vorsichtig hielt sie sich die Muschel ans Ohr – und stellte begeistert fest, dass sie tatsächlich ein leises Rauschen vernahm.
»Und?« wollte der Junge wissen.
Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. »Ich kann es hören! Ich kann das Meer hören!«
»Was willst du dafür haben?« fragte Rondar den Muschelverkäufer.
»Zwei Brim.«
Der Bakouran hob die Brauen. »Zwei Brim? Du bist nicht gerade bescheiden, was?«
»Diese Muscheln sind selten«, verteidigte sich der Junge. »Und ich musste ziemlich tief tauchen.«
»Einen halben Brim.«
Der Junge rang die Hände. »Kojor!« rief er weinerlich. »Habt ein Einsehen! Ich muss noch zwei kleine Geschwister durchfüttern!«
Rondar lachte. »Ich glaube, du verdienst an deinen Muscheln ganz gut. Aber meinetwegen, einen Brim.«
Unvermittelt grinste der Junge wieder. »Gemacht.«
Der Bakouran reichte ihm die Münze. Der Muschelverkäufer bedankte sich mit einem Nicken und knabberte dann weiter an seinen Kernen. Ishira hatte den Handel mit zunehmender Verwirrung verfolgt. Schon im Stoffladen war der Verkäufer bei Rondar mit dem Preis heruntergegangen. Also ließen die Händler nur die Inagiri den vollen Preis bezahlen…
Rondar lächelte ihr zu. »Mein Geschenk für dich. Ein Andenken an Inuyara und das Meer. Ich hoffe, die Muschel gefällt dir.«
Ishiras aufkeimender Groll erstarb. Mit dem Zeigefinger fuhr sie langsam die Windungen des Gehäuses nach. Es war ein eigenartiges Gefühl, ein Geschenk von einem Gohari zu erhalten, und sicher unklug, sich so darüber zu freuen, aber sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. »Sie ist wunderschön. Ich danke Euch vielmals, Deiro.«
Ihr Begleiter ging weiter zu den Garküchen. Ishira schnupperte und beäugte die Fische und anderen Meerestiere, die auf den Holzbrettern zur Ansicht auslagen, mit einiger Skepsis. Konnte man diese skurrilen Wesen wirklich essen? Sie deutete auf ein dunkelglänzendes Geschöpf mit rundem Körper – oder war es der Kopf? – und einem Dutzend oder mehr schlangenartiger Auswüchse. »Was ist das für ein Tier, Deiro?«
»Ein
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