Indigosommer
Herz bis zum Hals und das kam nicht nur vom schnellen Laufen. Es gab ein Klingelschild, aber der Name darauf war unleserlich geworden. Als ich klingeln wollte, kam Conrads Wolfshund um die Ecke gelaufen und bellte mich an. Ich erschrak, unterdrückte aber meine Angst.
»Schon gut, Boone«, sagte ich mit bebender Stimme. Der Hund begann zu winseln und setzte sich. Mutig strich ich ihm über das Fell.
Die Tür öffnete sich und ich war völlig perplex, als ich Chief Howe gegenüberstand. Er war barfuß, trug ein löchriges, ausgeblichenes T-Shirt und ebenso löchrige Jeans. In diesem Outfit sah er jung aus, noch jünger als auf dem Polizeirevier. Und er war ebenso überrascht wie ich. Er musterte mich, sein Blick senkte sich in meine Augen, als könne er darin lesen.
In seinem dunklen Gesicht erkannte ich die Ähnlichkeit mit Conrad. Dieselben halbmondförmigen Augen, die goldenen Sprenkel in der dunklen Iris. Wahrscheinlich war er Conrads Bruder, genauso wie der Junge, dem ich das Geld für das Foto gegeben hatte, denn der war ja auch in dieses Haus gelaufen.
»Hallo«, sagte Howe, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in den Türrahmen. »Willst du zu mir oder zu meinem Sohn?«
Sohn? Das musste ein Irrtum sein. »Ich will zu Conrad«, stotterte ich. »Ist er da?« Ich hoffte, der Chief würde mich nicht fragen, was ich von Conrad wollte.
»Er ist oben.« Howe nickte die Treppe hinauf. »Die erste Tür rechts.«
»Danke.« Langsam stieg ich die dunkle Treppe hinauf. Meine Füße waren auf einmal schwer wie Blei. Am liebsten wäre ich auf jeder zweiten Stufe stehen geblieben, um Luft zu holen, aber ich wusste, dass Paul Howe mir nachsah. Sollte er tatsächlich Conrads Vater sein? Dafür schien er mir viel zu jung. Oder sollte Conrad jünger sein, als er aussah?
Oben angekommen, atmete ich tief durch und klopfte. Als es von drinnen »komm rein« rief, öffnete ich zaghaft die Tür.
Nur mit Jeans bekleidet lag Conrad auf seinem Bett und las. Als er mich sah, sprang er wie von der Tarantel gestochen auf und rief verblüfft: »Smilla! Was machst du denn hier?« Er betrachtete mich von oben bis unten. Ungläubig – als wäre ich ein Geist.
»Ich bringe dein T-Shirt zurück«, sagte ich, griff in meine Tasche und gab es ihm. »Wie ich sehe, brauchst du es dringend.«
Conrad nahm mir das T-Shirt aus der Hand und zog es über. Verlegen standen wir einander gegenüber. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, und noch bevor ich etwas denken, geschweige denn etwas sagen konnte, meinte er entschuldigend: »Ich war nicht vorbereitet auf Besuch.«
Ja, dachte ich, und zwar schon seit Wochen nicht mehr. Es roch alt und muffig im Zimmer, obwohl die Balkontür offen stand. Zwei Wände wurden von vollgestopften Bücherregalen eingenommen, an einer stand ein gusseiserner Ofen und Conrads Bett. Auf dem staubigen Holzfußboden lagen Bücherstapel, CDs, alte Magazine und Klamotten, dazwischen irgendwelcher Abfall und faustgroße gelbe Papierkugeln – in den Ecken und unter dem Bett. Klamotten hingen über den beiden Stühlen, eine Schranktür stand offen, und was ich drinnen sah, war einfach hineingestopft.
Das Chaos in Conrads Zimmer schien nicht nur Wochen, sondern Monate alt zu sein. Auf einem Wandbord über dem Bett lagen Muscheln, Knochen und Steine und auch da eine Menge Staub.
Ich versuchte, ein paar Buchtitel zu entziffern. Conrad las Jack London, Hemingway, Melville und Schriftsteller, deren Namen indianisch klangen: Sherman Alexie, Winona LaDuke, Tomson Highway. Auf seinem Schreibtisch unter dem salzblinden Fenster stand ein verstaubter Globus und unter einem Abfallberg lugte ein Laptop hervor.
In einer Ecke des Zimmers entdeckte ich ein Aquarium, das scheinbar unbewohnt war. Aber Licht brannte und Sauerstoff-blasen stiegen gluckernd nach oben. Ich näherte mich dem Aquarium, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich zwei Seesterne darin, einen violetten und einen orangefarbenen. Beiden fehlte ein Arm.
»Hast du ein Heim für versehrte Seesterne aufgemacht?«, fragte ich Conrad.
»Ja«, sagte er, peinlich berührt.
Fragend sah ich ihn an.
Conrad hob die Schultern. »Ich sehe zu, wie der fehlende Arm nachwächst.«
»Er wächst nach?«, fragte ich erstaunt.
»Ja. Es dauert lange, aber irgendwann sind sie wieder komplett.«
»Das ist ja irre.«
»Ja«, sagte er erleichtert. »Ein paar Leute forschen daran herauszufinden, wie die Seesterne das machen. Vielleicht können wir den Trick
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