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Indische Naechte

Titel: Indische Naechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jo Putney
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bekommen«, gab David ein wenig reuig zu. »Aber es gefällt mir besser, dich unter den Lebenden zu sehen. Im übrigen bin ich noch nicht bereit, Indien zu verlassen. Ich werde schon mein eigenes Stück Schottland abbekommen, wenn die Zeit dazu da ist.«
    Also haßte sein Bruder ihn zumindest nicht dafür, daß er am Leben war. Ian nahm wieder seine Wanderung auf, blieb aber schließlich vor dem Fenster stehen. Während er in die samtige Dunkelheit der Nacht hinausblickte, erwog er den Gedanken, in das Land seiner Geburt zurückzukehren. Als Diplomat hatte Ians Vater den größten Teil seines Lebens im Ausland verbracht, und so war Falkirk sein britisches Kindheitszuhause gewesen. Ian hatte dort als kleiner Junge gelebt, in seinen Schulferien die wilden Hügel erforscht und war in der wunderschönen, tückischen Bucht geschwommen.
    Schottland, das Land seiner Väter, kühl und grün, so vertraut wie seine Westentasche. In seinem momentanen Zustand schimmerte der Gedanke an Falkirk wie ein fernes Leuchtfeuer in einer stürmischen Nacht. Der Verlust Georginas hatte ein riesiges
    Loch in seine Seele gerissen, aber Falkirk würde ein wenig die Leere ausfüllen können. Er hätte zumindest ein Ziel, eine Art Heim, und einen Grund sich aufzuraffen.
    Er drehte sich um und lehnte sich an den Fensterrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich denke, ich sollte nach Schottland zurückgehen.«
    »Ich hoffe, du bleibst aber noch ein paar Tage«, sagte David. »Gott weiß, wann ich dich wiedersehe. Es wird mindestens noch Jahre dauern, bis ich Schottland einen Besuch abstatten kann.«
    Da er den Entschluß gefaßt hatte, Indien zu verlassen, hätte Ian nichts lieber getan, als sofort abzureisen. Aber das war unmöglich. »Bevor ich gehe, muß ich noch etwas in Baipur erledigen. Wenn ich fertig bin, komme ich auf dem Rückweg nach Bombay noch einmal bei dir vorbei.«
    »Was hast du denn zu erledigen?«
    Ian dachte an Finsternis und Kälte und Verzweiflung und an den Mann, der eigentlich ein Feind gewesen war, ihm jedoch so nah wie sein eigener Schatten. »Ein Jahr lang teilte ich meine Zelle mit einem russischen Colonel, bis er exekutiert wurde. Er hat in einer kleinen Bibel ein Tagebuch geführt, und ich habe versprochen, sie seinem nächsten Verwandten zu überbringen, wenn ich überleben sollte. Er sagte mir, daß seine Nichte vor drei oder vier Jahren in Beipur gelebt hat. Da ich schon in der Nähe bin, bringe ich das Tagebuch lieber persönlich hin, als es über offizielle Kanäle zu schicken.«
    David zog eine Augenbraue hoch. »Was zum Teufel hat ein russisches Mädchen in einer indischen Distriktstation zu tun?«
    Ian forschte in seiner Erinnerung nach dem, was Pjotr gesagt hatte. In den langen, eintönigen Monaten hatten sie sehr viel voneinander erfahren und preisgegeben. »Die Mutter des Kindes war Tatjana, die jüngere Schwester des Colonels, und ihr Vater ein russischer Kavallerie-Offizier. Als Tatjanas erster Mann starb, besuchte sie ein Schweizer Kurbad, um ihren Kummer zu vergessen. Dort traf sie einen Verwaltungsbeamten der Company mit Namen Kenneth Stephenson, der auf dem Nachhauseweg war, um an einem College der Company in Haileybury zu lehren. Sie heirateten und lebten in Haileybury, bis Tatjana vor fünf oder sechs Jahren starb.«
    »Die Company muß ja entzückt gewesen sein, eine Russin in ihren Mauern zu haben«, bemerkte David amüsiert.
    »Laut Pjotr hatte seine Schwester nicht das geringste Interesse an Politik, konnte dafür aber jeden Mann auf Erden bezaubern. Nun, jedenfalls bat man Stephenson nach ihrem Tod, wieder nach Indien zu gehen. Er wurde zum Inkassobeamten des Distrikts in Baipur ernannt, und seine Stieftochter ging mit ihm. Pjotr hatte seit langer Zeit keinen Kontakt mehr zu seiner Nichte gehabt, aber die Chancen stehen gut, daß sie sich noch in Baipur aufhält.«
    »Der Agent in Cambay weiß sicher darüber Bescheid«, meinte David. »Wie heißt sie und wie alt ist
    sie?«
    »Larissa Alexandrowna Karelian, aber Pjotr nannte sie immer nur seine >kleine Lara<«, antwortete Ian und rollte dabei das R auf der Zunge. »Er meinte, sie wäre zu früh geboren, und Larissa erschien ihm zu mächtig für ein so winziges Würmchen, also wurde sie zu Lara. Da Pjotr selbst keine Kinder hatte, hing er sehr an seiner Nichte.« Ian dachte einen Moment nach. »Ich weiß nicht, wie alt das Mädchen ist, aber so, wie Pjotr immer von ihr gesprochen hat, muß sie dreizehn oder vierzehn sein. Alt genug

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