Indische Naechte
Das Ergebnis ist hervorragend.«
»Sehr gut bemerkt, Falkirk.« Rajiv Singhs Blick wurde wieder nachdenklich. »Indien ist die große Mutter. Ihre Kraft liegt in der Fähigkeit zu akzeptieren, was kommt, und es zu einem Teil ihrer selbst zu machen. Jeder Eindringling, jede Religion, die je dieses Land erreicht haben, sind von Mutter Indien aufgenommen worden und geblieben.«
Ian nickte. »Das Ergebnis ist die wahrscheinlich komplexeste Gesellschaft der Welt.«
»Was dies möglich macht, ist das Kastensystem, das so viele Europäer verachten. Hier gibt es einen
Platz für jeden, selbst für die, die keine Hindus sind, zum Beispiel Parsis und Moslems.« Er blickte Ian herausfordernd an. »Trotz der englischen Herrschaft gibt es zu wenige von euch, um viel Einfluß auf dieses,so große und dynamische Land zu haben. Ihr werdet eine kurze Periode der Macht innehaben und dann, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden.«
»Es wird Spuren geben.« Ian wies auf die Armee vor ihnen. »Disziplin, Gerechtigkeit.«
Der Maharadja schnaubte. »Disziplin hat ihren Nutzen, aber die britische Gerechtigkeit ist ein enger und engstirniger Begriff, der höchstens bei Ackerbauern angewandt werden kann.«
»Was auch so sein soll«, sagte Ian knapp, »denn die haben sie am ehesten nötig. Euer Land ist nie sehr freundlich mit den Schwachen umgegangen. Sie sind Opfer von Landbesitzern, Banditen, Priestern und Fürsten. In Britisch-Indien ist das Leben weniger gefährlich, die Steuern sind gerechter, und jeder Bauer kann vor Gericht erscheinen, um Gerechtigkeit zu fordern.«
Rajiv Singhs Augen verengten sich. »Ich leugne nicht, daß solche Dinge ihren Wert haben oder daß die meisten eurer Verwalter gute, anständige Männer sind. Aber Steuern, Diebe, Streitereien darüber, wessen Ochse wessen Garten zertrampelt hat - das alles sind Banalitäten. Was zählt, ist der Reichtum der indischen Kultur, die Vielfalt der Gesellschaft. Mit welchen Mitteln es der Sirkar auch versucht, er wird dies niemals auslöschen können.«
Ian hatte den Rajputen noch nie so eindringlich reden hören. In dem Wunsch, die Situation zu entschärfen, sagte er: »Das wollen wir ja auch nicht.
Wie die Römer herrschen wir, ohne zu versuchen, Land und Leute zu ändern.« Er dachte an den Brauch der Sati und Kindesopfer und berichtigte sich: »Meistens, wenn auch nicht immer.«
Rajiv Singh schnaubte wieder. »Sie sind tolerant, Falkirk. Durch Männer wie Sie wog das englische Joch viele Jahre leicht. Doch immer öfter versuchen Ihre Landsleute, uns zu >verbessere, unsere heidnische Lebensweise zu verändern. Sie verachten unsere Götter und Bräuche, die uns zu dem machen, was wir sind. Je mehr von diesen Briten hierher kommen, desto heftiger wird sich Indien gegen das Zaumzeug sträuben.«
»Das denke ich auch«, erwiderte Ian. »Die besten meiner Landsleute wissen, daß unsere Zeit hier begrenzt ist. Ich hoffe nur, daß die Briten in Frieden abziehen können, wenn die Zeit kommt. Indien und England haben viel voneinander gelernt. Es wäre schade, wenn das Vermächtnis durch Gewalt beeinträchtigt würde.«
Auf der Ebene ritten die Bataillone auf spektakuläre Weise durch die >gegnerischen< Reihen, aber Rajiv Singhs durchdringender Blick blieb auf Ian haften. »Sie gehören zu den besten Ihres Volkes, Falkirk. Deswegen möchte ich Sie an meiner Seite haben.« Dann wandte er seinen Blick wieder dem Schauspiel zu, das sich ihm bot.
Ian tat dasselbe, doch seine Gedanken waren weder bei der Beschaffenheit der Dharjistani-Armee noch bei Rajiv Singhs Angebot. Es wurde immer deutlicher, daß der Maharadja kein Herrscher war, der den Sirkar allzu sehr schätzte.
Der Tag der Militärparade bedeutete für viele Diener des Palastes Freizeit, und so war die Stimmung festlich. Meera hatte den Aufmarsch der Truppen aufregend und großartig gefunden und war noch zu aufgeregt, um direkt in die Frauengemächer zurückzukehren. Ihre Miene hellte sich auf, als sie Zafir in der sich zerstreuenden Menge entdeckte. Meera hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie in Manpur angekommen waren, und sie vermißte es, ihn anfauchen zu können.
Der große Pathane sah aus wie immer: arrogant, frech und barbarisch. Und - wenn er lächelte -sündhaft attraktiv. »Ich grüße dich, kleine Taube. Da wir beide ein wenig Freiheit haben — hast du Lust, mit mir im Park spazierenzugehen?«
Sie kämpfte einen Augenblick mit sich. Aber schließlich gehörten Zafir und sie ja zum
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