Indische Naechte
Chance bekommen sie nie!« Ian grübelte über dem Plan und suchte nach einem schwachen Glied, wo man den Verlauf der Dinge unterbrechen konnte, bevor die Katastrophe eintrat. »Gibt es einen Hinweis, wo dieser mysteriöse Paß sein soll?«
»Es gibt eine grobe Richtungsangabe, der vielleicht jemand folgen kann, der sich in den Bergen auskennt. Und es gibt einen Namen — Shpola. Sagt dir das irgend etwas?«
»Ich kenne ein Dorf mit diesem Namen zwischen dem Khyber-Paß und Jallalabad, vermutlich befindet sich dort also eines der Enden des Pfades«, sagte er nachdenklich. »Ich frage Zafir mal danach.«
Sie erschauderte. »Und die Zeit ist reif. Die Afghanen siegreich und wütend. Ärger und Aufstand im Punjab, so daß die Herrscher froh sein könnten, die Aufmerksamkeit der Armee nach außen zu lenken.«
»Und Rajiv Singh ist bereit, willig und fähig, als Anführer zu dienen«, beendete Ian die Prognose. »Das Niedermetzeln der britischen Armee hat bewiesen, daß der Sirkar nicht unbesiegbar ist. Das ist ein weiterer wichtiger Faktor. Hier glaubt man an Iqbal. Wenn es scheitert, kommen die Schakale herbei.«
»Was meinst du damit? Was ist Iqbal?«
»Vorbestimmtes Geschick. Schicksal, Glück«, erklärte er. »Wenn es so aussieht, als würde der britische Stern untergehen, wird jeder, der einen Groll gegen die Briten hegt - jeder Landbesitzer, der keine mörderischen Steuern mehr verlangen durfte, jeder, der einmal unter der Gier des Sirkar gelitten oder geglaubt hat, seine Religion würde unterdrückt —, sich mit anderen zu einem Rudel zusammentun, das jeden Europäer in ganz Indien niedermetzeln könnte.«
Lauras Gesicht war inzwischen weiß. »Glaubst du, daß es dazu kommt?«
»Leider ja. Es gibt hier nur ein paar tausend Europäer, verglichen mit Millionen von Indern. Wir können nur überleben, weil unsere Regeln von den meisten Leuten akzeptiert werden. Aber das kann sich ändern, besonders, wenn ein so kluger Mann wie Rajiv Sing den Plan ausführt, den Pjotr erdacht hat.« Ian fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »War dein Onkel nur daran interessiert, die Briten loszuwerden? Ich dachte, sein höchstes Ziel sei die russische Herrschaft gewesen.«
»Das denke ich auch«, antwortete sie. »Er deutet irgendein Doppelspiel an: Rajiv Singh zu einer Rebellion zu überreden und darauf hoffen, daß die vorübergehende Koalition nach dem Sieg wieder auseinanderfällt. Dann könnten die Russen einmarschieren.«
»Was bei der gespannten Atmosphäre zwischen Hindus, Moslems und Sikhs nicht unwahrscheinlich wäre«, setzte Ian hinzu. »Wenn sie keinen Feind mehr haben, könnten die Führer sich durchaus gegenseitig an die Kehle gehen, wenn die Briten erst einmal fort sind. Ich glaube zwar, dein Onkel hat Rajiv Singhs Talent, die Gruppen zusammenzuhalten, unterschätzt, aber ich möchte es lieber nicht auf die Probe stellen.«
Laura faltete die Notizen ihres Onkels wieder zusammen und glättete die Knicke mit ihrem Daumennagel. »Jetzt verstehe ich, warum Pjotr im Gefängnis schließlich bereute, sich für so schlau gehalten zu haben. Zehntausende von Menschen werden sterben, wenn die Afghanen einfallen, und die anderen Fürstentümer mitkämpfen. Wie konnte ein so freundli-cher Mensch wie Onkel Pjotr sich so etwas überhaupt ausdenken?«
»Die simple Antwort ist, daß es seine Aufgabe war, den russischen Einflußbereich zu schützen und zu erweitern.« Ian seufzte. »Aber noch zutreffender ist es, daß es gefährlich leicht für jemanden ist, sich in der Erregung des Pläneschmiedens zu verlieren. Du weißt ja, daß die Engländer diese heimliche Kriegführung das >Große Spiel< nennen. Pjotr sagte mir, die Russen nennen es >Turnier der Schatten<. In beiden Fällen bedeutet die Metapher eine sportliche Herausforderung. Sei der Schnellste, Schlaueste, Gefährlichste, und du siegst!«
»Und nur Gott weiß, wie viele unschuldige Menschen deswegen sterben müssen«, sagte sie bitter und dachte an die indischen Dorfbewohner, die sie kennengelernt hatte, und die nichts wollten, als in Frieden zu leben. »Was tun wir jetzt, Ian?«
»Das ist einfach«, gab er zurück. »Wir gehorchen Pjotrs Letztem Willen und stellen sicher, daß dieses Feuer niemals entfacht wird.«
Kapitel 30
Als Meera am Morgen zu ihrer Herrin kam, brauchte sie nicht erst zu fragen, ob sie mit ihrem Bestreben, ihren Mann zu verführen, Erfolg gehabt hatte. Ein Blick in das leuchtende Gesicht der Memsahib war Antwort genug. Sie sorgte dafür,
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