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Indische Naechte

Titel: Indische Naechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jo Putney
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eine Halbschwester, die so heißt?«
    Sie sah ihn erschüttert an. »Ich bin Larissa Alexandrowna. Oder ich war es einmal. Was wollen Sie von mir?«
    Er starrte sie verdutzt an. »Sie sind Lara?«
    Ihre dunklen Brauen zogen sich nach oben. »Ja. Warum überrascht Sie das?«
    Ian schüttelte den Kopf und kam sich wie ein Narr vor, daß er das Offensichtliche übersehen hatte. »Tut mir leid. Irgendwie war Lara in meiner Vorstellung ein dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen. Ich habe keine erwachsene Frau erwartet.« Wenn er sie nicht für eine Engländerin gehalten hätte, wäre es ihm sofort aufgefallen, daß sie Pjotrs hohe, ausgeprägte Wangenknochen besaß. Auch diese schrägen, bernsteinfarbenen Augen wiesen auf die Jahrhunderte hin, in denen Rußland von den Horden aus Zentralasien heimgesucht wurde. Die unvermeidliche Vermischung der Rassen, die daraus entstanden war, hatte ein russisches Sprichwort geformt, das Pjotr oft zitierte: »Kratz an einem Russen, und du findest einen Tataren.« Seine Nichte war der lebende Beweis seiner Worte, denn ihre Vorfahren schlossen deutlich mongolische Krieger ein; der Ausdruck ihres Gesichts hätte einem mißtrauischen Dschingis-Khan alle Ehre gemacht.
    Mit mehr als einem Hauch von Feindseligkeit sagte sie nun: »Ich bin Laura Stephenson, seit ich zehn Jahre alt wurde. Niemand nennt mich mehr Lara.«
    »Ihr Onkel schon.«
    »Mein Onkel?« Die feindselige Miene verschwand, und sie wurde plötzlich blaß. »Sie kennen Onkel Pjotr?«
    »Ich fürchte, ich habe eine weitere schlechte Nachricht für Sie«, sagte Ian ernst. »Colonel Kuschutkin starb letztes Jahr in Buchara.«
    Sie schloß die Augen, und in ihrem Gesicht zuckte es. »Ich hatte schon lange befürchtet, daß ihm etwas passiert ist«, sagte sie traurig. »Es war so lange her, seit ich seinen letzten Brief bekommen habe, und ewig, seit ich ihn persönlich gesehen habe. Ich war erst dreizehn, als er uns das letzte Mal in England besuchte.«
    Ian nickte verstehend. »Das muß der Grund sein, warum er von Ihnen immer als kleines Mädchen gesprochen hat. Es war das Bild, das er in seiner Erinnerung von Ihnen mit sich trug.«
    Sie rang die Hände, ohne es zu bemerken. »Meine Mutter hat immer gesagt, Pjotrs Hang zum Abenteuer würde ihn eines Tages an einem fernen, wilden Ort den Tod bringen.«
    »So ist es geschehen«, sagte Ian, »aber erst nachdem er Dinge getan und gesehen hatte, von denen die meisten Männer nur träumen können. Er meinte einmal zu mir, nur der dümmste Feigling könne ernsthaft in seinem Bett sterben wollen.«
    »Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
    »Wir waren zusammen im Schwarzen Brunnen in Buchara gefangen.« Ians Kehle zog sich zusammen. Er haßte es, über das, was geschehen war, zu sprechen, aber Lara hatte das Recht, es zu erfahren. »Es gibt in Buchara viele russische Sklaven, und unsere Regierung hatte Angst, daß der Zar dies als Anlaß nehmen würde, das Khanat zu annektieren. Ich wurde nach Buchara geschickt, um beim Emir die Freilassung der Sklaven zu erbitten, damit eine Quelle der Provokation beseitigt wäre. Dummerweise machte ich den Fehler, zuerst nach Kokand zu gehen, wodurch der Emir zu dem Schluß kam, ich sei ein Spion. Er ließ mich in den Schwarzen Brunnen werfen, wo Pjotr bereits sechs Monate saß. Wir teilten die Zelle ein Jahr lang. Und schließlich hat er mein Leben gerettet.«
    Laura blickte Ian verwirrt an. »Wie das?«
    »Der Emir beschloß, mich zu exekutieren. Als die Wachen kamen, fieberte ich, bekam kaum noch etwas mit. Pjotr Andrejewitsch bestand darauf, an meiner Stelle zu gehen.« Ian starrte ins Feuer. Im letzten Augenblick, bevor man ihn fortbrachte, hatte Pjotr versucht, ihm etwas zu sagen, und seine Stimme hatte einen dringlichen Unterton gehabt, aber Ians Delirium war zu heftig gewesen, um etwas anderes als die Tatsache durchzulassen, daß sein Freund sterben wollte. Er konnte sich an nichts anderes mehr erinnern. Seit diesem Augenblick wurde er das enervierende Gefühl nicht los, daß er etwas eminent Wichtiges überhört hatte, aber es half alles nichts: Er konnte sich nicht erinnern. »Pjotr sagte mir, eine schnelle Exekution wäre besser für ihn, als bei dem Zustand seiner Lungen langsam im Schwarzen Brunnen dahinzusiechen.«
    Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Und wieso haben die Wachen ihn als Ersatz für Sie akzeptiert?«
    »Wahrscheinlich wäre es ihnen niemals in den Sinn gekommen, daß sich jemand freiwillig dazu entscheiden könnte, vor seiner

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