Indische Naechte
Papa und ich es seiner Stellung schuldig waren. Meine Zofe stammt aus Baipur und wird ebenfalls bald heiraten, also wird sie nicht mitkommen wollen. Ich schaffe es aber durchaus allein bis Bombay.«
Er warf ihr einen rätselhaften Blick zu. »Du wirst deine Armee von Dienern wirklich nicht vermissen?«
»Nicht im geringsten.« Sie rümpfte die Nase. »Ich weiß, daß wir wohl einen großen Haushalt müssen haben werden, um dem britischen Prestigedenken zu entsprechen, aber ich finde, viele Diener bedeuten genauso viel Ärger wie Luxus. Oft denke ich, es wäre einfacher, die Arbeit selbst schnell zu erledigen, als auf jemanden aus der richtigen Kaste zu warten, der es dann tut. Einmal lag ein toter Vogel einen halben Tag im Garten, bevor man den richtigen Unberührbaren gefunden hatte, der das Tier fortbringen konnte. Ich war gerade erst in Indien angekommen, und mir kam es absolut seltsam vor. Erst später erfuhr ich, daß kein Hindu aus einer höheren Kaste einen toten Körper berühren kann, ohne herabgestuft zu werden.«
Er nickte verstehend. »Als junger Offizier fand ich es höchst merkwürdig, daß ein Soldat, der ohne nachzudenken sein Leben für mich riskieren würde, es ablehnte, aus meiner Feldflasche einen Schluck Wasser zu nehmen. Aber die Hindu-Regeln über Reinheit sind recht gesund.«
»Mein Vater meinte immer, daß alle Sitten, die einem Europäer unbegreiflich sind, aus gesellschaftlichen Bedürfnissen entstanden sind«, sagte Laura. »Wie auch immer — um zum Thema Reise zurückzukehren: Ich fände es einfacher, wenn wir ohne Begleitung reiten könnten.«
»Dann tun wir das«, stimmte Ian zu. »Übrigens müssen wir durch Cambay, obwohl es ein Umweg ist. Ich habe meinem Bruder versprochen, daß ich ein paar Tage bei ihm bleibe, bevor ich nach Hause fahre.«
»Du hast einen Bruder in Indien?«
»Ja. David ist Offizier in meinem alten Regiment.« Ian verzog das Gesicht. »Als ich neulich durch Cambay kam, war mein Aufenthalt so kurz, daß ich niemanden von meinen alten Freunden besucht habe. Ehrlich gesagt, möchte ich es auch jetzt am liebsten nicht, weil ich immer wieder die gleichen Fragen beantworten muß, aber ich habe es nun einmal meinem Bruder versprochen.«
»Dann gehen wir natürlich nach Cambay«, sagte sie herzlich. »Erzähl mir von David und deiner restlichen Familie.«
Er lächelte ein wenig. »Du willst die Wahrheit über uns erfahren, solange du noch Zeit hast, deine Meinung zu ändern?«
Sie kicherte. »Eigentlich finde ich den Gedanken, ein paar Verwandte zu heiraten, reizvoll. Ich selbst habe so wenig.«
Durch ihre Worte ermutigt, sprach Ian den ganzen restlichen Rückweg von seiner Familie und seiner Kindheit. Laura hatte ihn bisher noch nie so lange an einem Stück reden hören. Seine Stimmung war besser und entspannter, seit sie eingewilligt hatte, ihn zu heiraten. Es tat ihr gut, daß sie seine Laune hob.
Während sie zuhörte, begann sie sich ein Bild von Ians früherem Leben zu machen. Sein Vater, für seine diplomatischen Dienste zum Ritter geschlagen, war offenbar ein brillanter und schwieriger Mensch gewesen, während seine Mutter eine wunderbare Frau gewesen sein mußte, die jedoch durch all die starken Persönlichkeiten ihrer Familie in den Hintergrund gedrängt worden war. Als Ältester hatte Ian schon früh gelernt, auf andere aufzupassen; Offizier zu werden, war nur die natürliche Folge daraus.
Laura glaubte, daß sie seine beiden Brüder mögen würde, aber die Beschreibung seiner Schwester war alarmierend. Sie hatten die Ställe hinter dem Stephenson-Bungalow erreicht und stiegen ab, als Ian seinen Familienbericht beendete. »Ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe«, sagte Laura. »Deine Schwester ist also eine rothaarige Amazone, die wie der Teufel reitet, einer Bergziege die
Barthaare abschießen kann und dann in ein Abendkleid schlüpft, wodurch sie allen Männern in der Umgebung sehnsuchtsvolle Seufzer entlockt?«
Er lächelte. »Ich habe es nicht ganz so ausgedrückt.«
»Es hörte sich aber furchterregend an«, erwiderte Laura düster, als sie dem Stallburschen die Zügel reichte.
»Eigentlich denke ich, du würdest sehr gut mit ihr auskommen. Besser als...« Er brach abrupt ab.
»Besser als wer?« Sie nahm seinen Arm. Nun brauchte sie keinen Abstand mehr zu halten — Gott sei Dank.
Nach einer kleinen Pause sagte Ian: »Besser als die meisten Frauen. Ihr beide habt sehr unkonventionelle Charakterzüge. Obwohl diese bei ihr
Weitere Kostenlose Bücher