Infanta (German Edition)
schien an ihm vorbeizuströmen. An ihm und an schwarzen Besatzungssoldaten, Kolossen aus Alabama oder Chicago, an ihm und an Matrosen – und Japanerrudeln, die vor den Tanzdielen standen. Alle anständigen Menschen bewegten sich, staubbedeckt und teils verwundet, in Richtung der Präsidentengärten, nur er drückte sich, mit aufeinandergepreßten Lippen und peinlich gesäubert, vor einer einschlägigen Adresse herum. Als könne selbst eine Revolution seine Neugier nicht in wertvollere Energie umwandeln.
Die Adresse hatte ihm keiner empfohlen. Doch bekanntlich war jede Sauna in diesem heißen Land ein Bordell, und so hatte der Name den Ausschlag gegeben. Das Blue Angel Dampfbad lag im zweiten Geschoß eines von Autogasen geschwärzten Hauses über einem Eßlokal. Eine steile Treppe führte hinauf. Ohne fremde Hilfe würde er bereits an dieser Treppe scheitern. Augustins geistige Generalprobe war in vollem Gang. Welche Entdeckungen würde er dort oben machen? Die einer Hand an ihm, die nicht die eigene Hand wäre? Die eines Schauers, gegen den alles Selbsterzeugte nur Geriesel war? Was stand ihm bevor? Verwandlung? Entpuppung? Ein Neugeborenwerden? Mußte er mit Rückfall in die Zeit des Lallens rechnen? Wäre er hinterher noch derselbe? Augustin hoffte inständig, sein Sekundant möge kommen und ihm die nötigen Ratschläge geben; fast hätte er darum gebetet, nicht allein zu bleiben. Aber er mutete seinem Glauben schon genug zu. Obwohl diese Erfahrung ja dazu führen sollte, ein unbeirrbarer Verbreiter des Glaubens zu werden. Ein Sieger, der genau wüßte, worüber er gesiegt hatte. Und um als dieser Körperbezwinger hervorzugehen, müßte er die Schlacht wenigstens einmal verlieren. Und dazu brauchte er Beistand. Vorher und nachher. Er selbst könnte das Mädchen, die junge Frau, das weibliche Wesen, was immer sie für ihn wäre, nicht einmal ansprechen. Ihre Gaben flößten ihm Ehrfurcht ein; Augustin vermied jeden Gedanken an das Aussehen dieser Unterweiserin. Schon aus Instinkt hielt er sich an das zweite Gebot. Denn die unheimlichste seiner Befürchtungen, unheimlicher als die einer Krankheit oder des Versagens, eines Süchtigwerdens oder des Seminarskandals, war die Vorstellung, in der Einmaligkeit dieser Stunde Gott zu begegnen.
Er sah auf die Uhr. Sein erfahrener Helfer müßte nur auftauchen, und wenige Minuten später wäre es soweit. Dann läge unter ihm oder über ihm oder an seiner Seite eine Frau. Also ein anderer Mensch. Keine Figur aus einem Schlager, nicht Diana, nicht Mary Lou, nicht Angie Baby. Ein Mensch. Wahrscheinlich erschöpft von der Tagesarbeit und in Gedanken bei seiner Familie oder dem Geschehen auf der Straße. Und diesen Menschen sollte er nun ohne weiteres anfassen und ein Teil von sich in ihn hineintreiben wie einen Nagel in eine Wand. Und das mit baldigem Ergebnis. Was, wenn er dazu nicht imstande wäre? Weil er niemandem weh tun konnte; ihn etwa Mund oder Augen dieses Menschen an jemanden erinnerten, zum Beispiel an Mayla; oder dieser Mensch mehr in ihm sähe als Kundschaft – auch einen Menschen.
Augustin fror. Nicht irgendeine Frau erwartete ihn, ihn erwartete die Vertreterin einer Gattung und eines ganzen Geschlechts. Und er vertrat das andere Geschlecht. Und was dann folgte, war Geschlechtsverkehr. Schon dieses Wort hatte ihn immer erschreckt. Und dazu kämen alle Worte davor, währenddessen und danach. Die Verwicklung in ein Gespräch war demnach fast zwangsläufig. Man wurde sicher auf den Kleiderhaken hingewiesen, man wurde um zusätzliches Geld gebeten, man wurde gefragt, wie man es wünsche, man wurde in Stimmung versetzt, und wenn das nicht half, wurden Alternativen besprochen; man wurde getröstet. Aber unter Umständen hatte er ja Glück. Viele in dem Gewerbe seien stumm, war immer wieder zu hören. Eine Stumme, dachte Augustin, oder gar keine. Sein Expeditionsgefährte müßte ihn zu einer Stummen führen. Ob er zuvor noch etwas essen sollte und die Frist damit verlängern? Nach einem Jahrzehnt kam es schließlich nicht auf Minuten an.
Er betrat das Lokal unter dem Dampfbad. Es war zum Gehsteig hin offen, unter den Tischen huschten Kinder und klaubten Abfälle auf. Er bestellte Reis mit Hühnerfüßen, dazu ein Bier. Ein Bier konnte sicher nicht schaden. Zigarettenjungen hielten ihm ihre puppenstubenhaften Bauchläden hin und priesen die winzigen Waren an. Augustin kaufte ein Pfefferminzbonbon. Auch das konnte sicher nicht schaden. Die Kinder legten ihre Hände auf
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