Infanta (German Edition)
Er zwang sich dazu. Ohne auf die Uhr zu sehen, zählte er die Schläge. Hatte er Hoffnung gemacht, er würde das Erbe antreten? Diesen Laden, diese Hütte, dieses Elend; diesen Raum, in dem es jetzt still war. Still wie in seiner römischen Wohnung, wenn ein Abend ohne Verabredungen anbrach, mit dem letzten Wort der Nachrichten; Buona serata , und die Stille begann. Noch immer zählte er die Lebenszeichen. Bei hundert zog er seine Hand zurück. Wilhelm Gussmann schlief, und alles im Raum verlor seinen Sinn. Die Zeitungen auf dem Boden, die Konserven im Regal, die huschenden Schaben verloren ihren Sinn. Das kleine Radio unter der Matratze und das Köfferchen mit Gnadennadel. Der Strohhut, die Fliegengitter und das elektrische Licht; das Blatt, das Gussmanns Schoß bedeckte, sein nasses Haar und sein Atem verloren ihren Sinn. Ein Kamm und Rasierbesteck lagen noch sinnloser neben dem Spülstein als vorher. Am sinnlosesten standen die Bierhumpen da. Kurt Lukas hob sie an und stellte sie wieder auf die staubfreien Kreise. Er wollte gehen und blieb.
Ohne Zeit, ohne Form, so erschien ihm jetzt alles, und so fühlte er sich. Weder müde noch wach, entschlossen zu nichts. Wie in Rom, im August, wenn er auch gehen wollte und blieb. Er trat ans Fenster und sah einen Käfer, der am Gitter entlangkroch. Er schaute ihm zu. Er verfolgte das Kriechen – wie gut er diese Trägheit seiner Augen kannte, die ihn sonst auf dem Höhepunkt des Sommers befiel. Bei einer schleichenden Katze, bei einem wippenden Rock, bei einem Paar, das sich küßte; fast in jeder Bewegung konnte er sich verlieren, bis ihm am Ende das Alleinesein vor Augen stand. Die bestechende römische Traurigkeit, die im August seine Terrasse, seine Wohnung, die ganze Stadt und jeden der Hundstage tränkte, hatte ihn wieder. Das Schauen und Schauen und Hinterhergehen und allmähliche Verführen, das zu nichts führte. Wenn er am späten Nachmittag einen neuen Mund erforschte und schon beim ersten Kosten wußte, daß es nicht der Mund der Münder war, nicht die Frau der Frauen. Nicht das Glück. Wenn er das begriff und seine Umarmung heftiger wurde, um wenigstens den fremden Körper zu spüren, und er diesen Körper überall küßte und dabei schon Abschied nahm, wenn er nicht eins sein konnte. Er kratzte am Fliegengitter und fühlte die Kralle des Käfers, sein sich Wehren durch die Maschen, und war völlig unvorbereitet, als ihn der Geruch frischgewaschenen Haars erreichte. Kurt Lukas drehte sich um. In der Tür zum Hof stand Mayla.
Sie sah ihn an, als warte sie noch darauf, ihn zu sehen, und er bewegte eine Hand. Im zweiten Augenblick wollte er auf sie zugehen, aber Mayla ging schon zu Gussmann. Als sie sah, daß er nur schlief, also lebte, stellte sie ihre Tasche auf den Tisch. Für eine gewöhnliche Begrüßung war es inzwischen zu spät. Mayla tat dann, was sie immer zu Beginn des Besuchs getan hatte, sie räumte rund um das Krankenlager auf. Kurt Lukas schaute in den Hof; es goß auf einmal. Das Prasseln auf Blätter und Dach war so laut, daß er ihre ersten Worte kaum hörte – »Langsam fängt die Regenzeit an.«
Er nickte sachverständig und kam auf sie zu. Fast alles an ihr – Stimme, Gesicht, Bewegungen, Hautfarbe, Haltung, Frisur – war ihm etwas anders in Erinnerung, ein wenig schwereloser. Ein Lächeln löschte dann diesen Eindruck, ein leichtes Lächeln über sein neues Hemd; er schloß die unteren Knöpfe. Wie gut, daß sie gekommen sei, Gussmann rede schon vom Sterben. Mayla unterbrach ihn. »Wilhelm stirbt nicht im Bett«, sagte sie und ließ danach den Mund etwas auf, als erwarte sie einen Kuß.
Kurt Lukas zog sich Hautfetzen von der Nase. Mayla schaute ihm zu. Dann fielen drei Sätze. Sie: »Du hast einen Sonnenbrand.« Er: »Den bekommt man hier schnell.« Sie: »Ich bekomme ein Kind.«
Der Regen ließ nach. Kurt Lukas zog sich immer noch Haut ab. Maylas Mund war jetzt geschlossen. Nun schien sie ein Urteil über Leben und Tod zu erwarten. Als das Geprassel ganz aufhörte, hielt sie ihm die Hand fest, um seine wunde Nase zu schützen, und drückte die Hand; ihre Zärtlichkeit kam so unerwartet wie die Bemerkung über das Kind. Beides floß für ihn ineinander, und von einer jähen, aberwitzigen Hoffnung erfüllt, wie sie nur Gefangene und Verliebte aufbringen, sagte er, »Du machst dir einen Spaß mit mir, ich seh es dir an. Warum solltest du auch schwanger sein, wo wir doch verreisen – nächsten Monat sind wir in Rom. Wenn dort der
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