Infanta (German Edition)
deren Wert Doña Elvira blitzartig erkannte; sie schnappte Schmelz und Texte auf und sang nach zweimaligem Hören Il Mondo und La Notte, Una Lacrima Sul Viso und A Chi.
Schnell und schmerzlos wie eine gute Injektion stießen die Melodien durch Kurt Lukas’ Gedächtnisschichten, aber dann brach die Nadel und blieb in Schulerinnerungen stekken. Jedes Lied zog eine Schleppe unwiederbringlicher Augenblicke hinter sich her, und ob er wollte oder nicht, mußte er vor dem Einschlafen an seine Jugend am Bodensee denken, an Jahre, über die er nicht sprach; wer ihn wie Gussmann nach der Schulzeit fragte, bekam falsche Antworten. Über das einzige Stück Heimat in sich konnte er nur schweigen.
Schweigen über die Schilffelder zwischen Gaienhofen und Horn an ersten warmen Tagen. Schweigen über die Junistille, wenn der See zu schweben schien, über Sonntagnachmittage im schwankenden Holzboot; über das Tasten und Streicheln und in Augen und Nabel Schauen und langsame Abtreiben mit der Strömung. Schweigen über die aus weißem Dunst aufsteigenden Oktobertage, wenn herabgefallenes Obst in der Herbstsonne schmorte, der See allmählich kleiner wurde und das Jahr sich im süßen Fäulnisduft neigte. Schweigen auch über das Uferlose der Winterebbe und einen stelzigen Landungssteg, der nur an der Spitze im Flachwasser stand, jedem Lehrerblick entzogen, letzte Zuflucht für Dauerküsser und Kettenraucher, für ihn und die Freunde.
Seine Erinnerungen waren knapp und genau. Erst die Träume der frühen Morgenstunden verzerrten die Bilder; immer wieder schreckte er aus dem Schlaf und machte das Ewige Lämpchen an. Er fürchtete sich vor jedem Nocheinmaleinschlafen und drehte sich nicht mehr zur Wand. Wenn hoch über den Bäumen, wo die Luft frischer war, schon erste Vögel schrien, fragte er sich, wo er denn nun leben wollte, wohin er gehörte. In jeder Nacht stellte er sich dieselben Fragen und hatte bald eine innere Liste von bevorzugten Orten; jeden Morgen saß er erschöpfter beim Frühstück. Butterworth riet ihm schließlich aufzuschreiben, was ihn nicht schlafen lasse, und so begann er, die Liste zu führen.
Sie änderte sich täglich. Bald waren es zehn, bald zwölf Orte, jeweils mit kurzen Erläuterungen (etwa: Torri im Juli mit Blick auf Salò; oder: Ravello, das Haus im Fels unterhalb der Villa Cimbrone, ab September, wenn sich nachts die Sterne im Meer spiegeln). Um die Liste klein zu halten, beschrieb er nur einen Briefbogen am Tag. Einen Bogen, der immer für seinen versprochenen Brief an Mayla gedacht war und mit Anbruch der Dunkelheit sorgfältig zerrissen wurde, bis ihm Horgan eines Abends – sie saßen Stuhl an Stuhl auf der Terrasse – zuflüsterte, wenn er mit dieser Vernichtung aufhöre, werde er ihm die Geschichte seiner einzigen Liebe erzählen – »falls Sie das interessiert, Mister Kurt«.
Es interessierte ihn sehr, und Horgan bat um etwas Geduld. Die Zeit laufe noch in ihm zurück, doch gleich erreiche er einen prächtigen Sonntagmorgen kurz nach Kriegsende, sagte er; seine Stimme klang weniger schwach und weniger schleppend als sonst. »Auf dem Campus fanden wieder Tennisturniere statt, sogar im gemischten Doppel. Durch Losentscheid geriet ich an eine mir nur vom Sehen bekannte junge Dame und wunderte mich von Anfang an über unsere Harmonie, das heißt die Eleganz unserer Punkte. Wir sahen jede Lücke zwischen den anderen, bald hatten wir den ersten Satz gewonnen.« Horgan verlor sich dann in einer Schilderung des Spielgeschehens und bat schließlich erneut um Geduld: Das Tennismotiv verdecke noch die wahre Geschichte. Der kranke Priester vertiefte sich, und Kurt Lukas schrieb den angekündigten Brief.
»Mayla«, begann er, »seit Tagen bemühe ich mich, etwas Wahres zu schreiben, wie Du auf der Rückseite siehst. Ich notiere Orte und Augenblicke untereinander, die mir wichtig sind. Inzwischen bin ich ein bißchen geübt und traue mir diesen Brief zu. Ich will Dir von meinen letzten Nächten erzählen. Ich lag wach und lauschte der Musik aus der Bude, und ein Gefühl, das ich von Rom kenne, holte mich ein, das Gefühl eines endenden Urlaubs – leider kaum zu erklären; wenn es Dich überhaupt interessiert. Lieber willst Du doch von mir hören, warum ich mich verstecke. Aus einem einfachen Grund: Ich schäme mich. Ich habe über Gregorios Rückkehr gesprochen, man hat es Dir vielleicht erzählt. Und dann weißt Du auch, was dazu führte. Ich sah am Wahltag, wie der Mann seiner Frau das Herz aus der
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