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Infantizid

Titel: Infantizid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Grit; Hoffman Bode-Hoffmann
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merklich gealtert und ihre Körper hart und zäh sein. Das einzige Fallschirmjägerbataillon der DDR bestand aus drei Fallschirmjägerkompanien zu je 100 Mann, einer Nachrichtenkompanie, einer Transport- und Versorgungskompanie, einem Sprengtaucherzug und einem Unteroffiziersausbildungszug. Es ergaben sich bei den drei Kampfeinheiten somit immer drei Dienstjahre: die Glatten oder Frischen, die Zwipis, die sogenannten Zwischenpisser, und die Eks, die Entlassungskandidaten. Traditionell verstanden sich die Frischen mit den Eks am besten. Die Zwipis, die gerade das Höllenjahr hinter sich hatten, ließen ihre ganze Wut an den Neuen aus. Sie verglichen den Stress, den sie erfahren mussten, mit dem der Neuen. Natürlich wurden sie, die Zwipis, in jeder Hinsicht viel härter rangenommen und durften sich niemals Dinge erlauben, die die Neuen taten. Das war absurd, aber so lief es seit Bestehen des Bataillons. Allerdings nur innerhalb der Kaserne. Außerhalb gehörten alle einer großen Familie an, auch wenn wer in Schwierigkeiten geriet. Trug jemand ein rotes Barett, waren alle ohne Ausnahme zur Hilfe bereit. Selbst die Leute der Transport- und Versorgungskompanie, die normale Wehrpflichtige waren und kein Sprungabzeichen trugen, konnten sich auf den Kodex verlassen, dass ein Kamerad des Bataillons niemals im Stich gelassen wurde.
    Kurz nach der Ankunft hörten die Männer nichts als Gebrüll von drei sich abwechselnden Unteroffizieren. In drei Linien hintereinander auf dem Kompanieflur stehend, wusste das Häufchen Elend der Neuen nun endlich, was sie waren: nichts als Muttersöhnchen, verweichlichte Bourgeoisiekinder, die außer Bettnässen und Herumjammern nichts konnten. Alle sollten schleunigst den Daumen aus dem Hintern nehmen und das, was sie bis jetzt Leben nannten, schnell vergessen. Es würde alles anders und vor allem besser werden. Die Unteroffiziere sollten recht behalten.
    Ab sofort gab es nur noch eine Fortbewegungsart: Laufschritt. Drei ganze Jahre, 1.096 Tage Laufschritt, außer der Zeit im Urlaub vielleicht. Egal, ob man aus dem Zimmer zur Toilette oder zum Duschen wollte, ob man gerufen wurde oder nur zehn Meter zu überwinden waren, ob es zur Ausbildung ging oder zum Essen, immer nur Laufschritt. Alle waren dermaßen daran gewöhnt, dass einige, als sie nach zehn Monaten im ersten Kurzurlaub aus den Zügen stiegen, auf den Bahnsteigen automatisch anfingen zu rennen. Selbst für den Ek galt immer noch Laufschritt.
    Damit die Glatten beziehungsweise die Frischen auch äußerlich jeder sofort identifizieren konnte, wurde ihnen das Haupthaar fast komplett abrasiert.
    Matti Klatt stand auch auf dem Flur der Dritten Fallschirmjägerkompanie. In den letzten drei Tagen hatte jeder insgesamt nur fünf Stunden geschlafen. Alle hatten dunkle Ringe unter den Augen, die einen wegen Übermüdung, die anderen, weil sie seit dem Zuschlagen des Kasernentores noch nicht auf der Toilette gewesen waren. Zum Glück hielt sich der Stoffwechsel in Grenzen, da die Nahrungsaufnahme anfangs kaum als solche bezeichnet werden konnte. Insgesamt standen für das Essen ganze fünf Minuten zur Verfügung, egal, zu welcher Mahlzeit. Die Zeit lief, sobald 100 Fallschirmjäger vor dem Essensgebäude standen und auf Kommando, natürlich geordnet, in den Speisesaal rannten, wo sich jeder hinter einem Platz aufstellen musste. Waren alle anwesend, wurde ihnen vom diensthabenden Unteroffizier »Einen wirklich guten Appetit« gewünscht. 100 Mann brüllten: »Danke, Genosse Unteroffizier«, setzten sich und stopften rein, was nur ging. Denn in der Regel war nach zwei Minuten Schluss. »Alles auf!«
    Hurra, dachten die 100, endlich dürfen wir wieder rennen. Wer beim Essenmitnehmen erwischt wurde, erhielt eine schwere Bestrafung.
    Die Fallschirmjäger hörten immer wieder, wie wichtig persönliche Hygiene, Sauberkeit und Ordnung sowie Schnelligkeit wären. Und damit keiner einschlief, wurden zwischendurch immer mal ›ein paar‹ Liegestütze gemacht, auf den Fäusten oder auf den gestreckten Fingern. Unter anderem wurde zudem ›Mülleimer entleeren‹ trainiert. Dazu musste sich jemand einen Eimer schnappen, die Treppen hinunterhetzen, den Eimer auskippen und sich zurückmelden. Da der Eimer folglich nach dem ersten Ausleeren ohne Inhalt war, wurde das Ganze eben circa zehn- bis zwölfmal mit einem Eimer ohne

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