Infernal: Thriller (German Edition)
der Lederjacke sieht er aus wie die Mafiaschläger, die ich vor ein paar Jahren in Moskau gesehen habe: ein leicht unterernährtes, hungriges Raubtier, insbesondere um die Augen und den Mund herum.
»Eigentlich nicht, nein«, gestehe ich mit einem raschen Blick auf das Gemälde, das mir am nächsten hängt. »Sollte er?«
» Sollte hat damit überhaupt nichts zu tun. Obwohl das Bild wahrscheinlich eine bessere Chance hätte, Sie zu beeindrucken, wenn Sie die Sonnenbrille absetzen würden.«
»Es würde mir trotzdem nicht besser gefallen. Ich bin nicht hergekommen, um mir dieses Bild anzusehen.«
»Und weswegen sind Sie hergekommen?«
»Wegen Ihnen, das heißt, falls Sie Christopher Wingate sind.«
Er winkt mich herbei, dann wendet er sich um und steigt die Treppe hinauf. Ich folge ihm.
»Tragen Sie abends immer eine Sonnenbrille?«, fragt er über die Schulter.
»Warum? Spricht etwas dagegen?«
»Es sieht so nach Julia Roberts aus.«
»Dann haben Julia Roberts und ich tatsächlich etwas gemeinsam.«
Wingate kichert. Er ist barfuß, und seine bleichen, schmutzigen Fersen scheinen die Treppe hinauf zu schweben. Er geht am ersten Stock vorbei, in dem Skulpturen untergebracht sind, und steigt weiter in Richtung zweites Obergeschoss. Hier wohnt er offensichtlich. Alles sieht dänisch aus, klare Linien und skandinavische Hölzer, und es riecht nach frischem Kaffee. In der Mitte des Raums steht eine große, unvernagelte Holzkiste mit Verpackungsmaterial, das über die Ränder quillt. Auf dem Deckel liegen ein Klauenhammer und eine Reihe Nägel. Wingate legt Besitz ergreifend die Hand auf die Kiste, als er an ihr vorbeigeht. Sie reicht ihm bis zur Schulter.
»Was ist in der Kiste?«
»Ein Gemälde. Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Ich deute auf die Kiste. »Sie arbeiten hier oben? Es sieht aus wie Ihre Wohnung.«
»Es ist ein besonderes Gemälde. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich es zu Gesicht bekomme. Ich möchte mich an ihm erfreuen, solange ich kann. Möchten Sie einen Espresso? Cappuccino? Ich wollte mir gerade einen machen.«
»Cappuccino.«
»Gut.« Er geht zu einer Maschine aus blauer Emaille auf einer Theke hinter ihm und beginnt zu hantieren. Während er mir den Rücken zuwendet, trete ich zu der offenen Kiste. Im Innern ruht ein schwerer, goldener Rahmen. Ich spähe in das Dunkel zwischen Kistenwand und Rahmen; ich kann nicht viel erkennen, doch was ich sehe, ist genug: der Oberkörper und der Kopf einer nackten Frau. Ihre Augen sind offen und starren merkwürdig friedvoll ins Leere. Wingate ist noch immer mit den Bechern zugange, als ich von der Kiste zurücktrete.
»Und welcher Tatsache verdanke ich dieses Vergnügen?«, fragt er die Wand.
»Ich habe Gutes über Sie gehört. Man sagt, Sie wären ein äußerst wählerischer Verkäufer.«
»Ich verkaufe nicht an Dummköpfe.« Mit einer schwungvollen Bewegung gibt er geschäumte Milch auf den Kaffee. »Es sei denn, sie wissen, dass sie Dummköpfe sind. Das ist etwas anderes. Wenn jemand zu mir kommt und sagt: ›Mein Freund, ich weiß überhaupt nichts über Kunst, aber ich würde gerne anfangen zu sammeln. Würden Sie mich beraten?‹, dann helfe ich dieser Person selbstverständlich.« Ein weiteres Zischen von Wasserdampf in Milch. »Doch diese anmaßenden weißen protestantischen Angelsachsen bringen mich zum Kotzen. Sie haben Kunstkritik an der Yale studiert, oder ihre Frauen haben an der Vassar einen Kursus über die Meister der Renaissance absolviert. Sie wissen alles – wofür brauchen sie da mich? Als Aushängeschild, wie? Sollen sie mir den Buckel runterrutschen. Mein Ruf steht nicht zum Verkauf.«
»Nicht für Dummköpfe jedenfalls.«
Er wendet sich grinsend um und bietet mir eine dampfende Tasse an. »Ich mag Ihren Akzent. Sie kommen aus South Carolina?«
»Nicht einmal aus der Nähe«, antworte ich und trete einen Schritt vor, um die Tasse entgegenzunehmen.
»Aber aus dem Süden. Woher?«
»Aus dem Magnolien-Staat.«
Er sieht mich verblüfft an. »Louisiana?«
»Das ist das Sportlerparadies. Ich stamme aus der Heimat von William Faulkner und Elvis Presley.«
»Georgia?«
Ich bin definitiv in New York , denke ich. »Mississippi, Mr Wingate.«
»Man lernt doch jeden Tag etwas Neues, nicht wahr? Nennen Sie mich Christopher, einverstanden?«
»Einverstanden.« Nach Ron Epsteins Beschreibung von Wingate rechne ich halb damit, dass der Mann irgendeine abfällige Bemerkung über Mississippi als Heimat der Lynchjustiz von
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