Infernal: Thriller (German Edition)
sich gibt. »Nennen Sie mich Jordan.«
»Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeiten«, sagt er offen und ernst. »Sie haben ein erbarmungsloses Auge.«
»Ist das ein Kompliment?«
»Selbstverständlich. Sie schrecken nicht vor dem Entsetzen zurück. Oder vor Absurdität. Und Ihre Bilder zeigen Leidenschaft. Das ist der Grund, aus dem die Menschen einen Bezug zu Ihrer Arbeit finden. Ich schätze, es würde eine hohe Nachfrage geben, falls Sie ihre Fotografien eines Tages auf den Kunstmarkt geben. Nicht viele Fotografien sind dazu geeignet, doch Ihre ... ohne den geringsten Zweifel.«
»Sie sind gar nicht so, wie die Leute sagen. Ich habe gehört, Sie wären ein richtiger Mistkerl.«
Er grinst erneut und nippt an seinem Cappuccino. Seine Augen sind verblüffend schwarz. »Das bin ich auch, gegenüber den meisten Leuten jedenfalls. Doch bei Künstlern, die ich mag, bin ich ein schamloser Schmeichler.«
Ich will ihn nach dem Bild in der Kiste fragen, doch irgendetwas sagt mir, noch zu warten. »Man sagt, Fotografie könnte entweder Journalismus oder Kunst sein, aber niemals beides.«
»Was für ein Unsinn. Die Begabten brechen stets die Regeln. Sehen Sie sich das Buch von Martin Parr an. Er hat mit ›The Last Resort‹ den Fotojournalismus auf den Kopf gestellt. Sehen Sie sich die Arbeiten von Nachtwey an. Das ist Kunst, ohne jeden Zweifel. Und Sie sind Stück für Stück genauso gut. Besser sogar, in mancherlei Hinsicht.«
Jetzt weiß ich ganz sicher, dass er mich auf den Arm nimmt. James Nachtwey ist der herausragendste Kriegsfotograf bei Magnum. Er hat den Capa fünfmal gewonnen. »In welcher Hinsicht?«
»In kommerzieller beispielsweise.« Ein schlaues Glitzern in den schwarzen Augen. »Sie sind ein Star, Jordan.«
»Bin ich das?«
»Die Menschen sehen Ihre Bilder – nüchtern, furchtbar, unnachgiebig – und sie denken: ›Eine Frau hat dort gestanden und das angesehen und aufgezeichnet; mit weiblicher Sensibilität. Wenn eine Frau das ausgehalten hat, dann muss ich es ebenfalls aushalten.‹ Es haut sie um. Und es ändert ihren Blickwinkel. Das ist es, was Kunst ausmacht.«
Ich habe all das schon früher gehört, und obwohl es im Großen und Ganzen zutrifft, ärgert es mich. Es klingt so nach: Nicht schlecht, für eine Frau .
»Und dann Sie selbst«, fährt Wingate fort. »Sehen Sie sich an. Kaum Make-up und trotzdem wunderschön, und das mit wie viel? Vierzig?«
»Vierzig.«
»Sie sind gut zu verkaufen. Wenn Sie ein paar Interviews über sich ergehen lassen und eine Vernissage, kann ich Sie zu einem Star machen. Einem Symbol für alle Frauen.«
»Sie sagten doch, ich sei bereits ein Star?«
Er kommt kaum ins Stocken. »Auf Ihrem Gebiet, ohne Zweifel. Aber was ist das? Ich rede von Popkultur. Sehen Sie sich Eve Arnold an. Sie wissen, wer das ist. Aber wenn ich nach unten gehe und hundert Leute auf der Straße frage, bekomme ich keine Antwort. Dickey Chappelle wollte in aller Munde sein. Das war ihr Traum. Sie ist durch die ganze Welt gezogen, von Iwojima bis Saigon, doch sie wurde nie, was sie sich am meisten wünschte – ein Star.«
»Ich bin nicht durch die ganze Welt gezogen, um ein Star zu werden.«
Ein wildes Glitzern in seinen Augen verrät mir neues Interesse. »Nein, das sind Sie nicht. Ich glaube Ihnen. Aber warum dann? Warum trotten Sie von Pontius zu Pilatus und fotografieren Ungeheuerlichkeiten, die selbst Goya schockieren würden?«
»Sie haben sich die Antwort auf diese Frage noch nicht verdient.«
Er klatscht in die Hände. »Aber ich kenne sie bereits! Es ist Ihr Vater, nicht wahr? Der gute alte Daddy, Jonathan Glass, die Legende aus Vietnam. Der Fotograf, der seinen Mörder geschossen hat.«
»Vielleicht sind Sie ja doch so ein Mistkerl, wie alle sagen.«
Sein Grinsen wird breiter. »›Ich kann nichts dafür‹, sagt der Skorpion zum Frosch. ›Es liegt in meiner Natur.‹«
Einige der größten Bastarde, denen ich begegnet bin, waren charismatische Männer, und Wingate bildet keine Ausnahme. Mein Blick wandert zu der Kiste zwischen uns.
»Und wie er gestorben ist!«, triumphiert Wingate weiter. »Während einer Serie von Bildern, die ihm posthum den Pulitzer eingebracht haben! Das ist Mythos. Und dass seine Tochter in seine Fußstapfen tritt? Ein legitimer Schritt, der sich prima ausschlachten lässt, ohne dass wir ihn aufbauschen. Wir könnten eine Doppelshow machen. Über freie Berichterstattung reden. Wer hat die Rechte an den Bildern Ihres Vaters?«
»Ich glaube
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