Infernal: Thriller (German Edition)
nicht, dass mein Vater in Kambodscha gestorben ist«, sage ich mit tonloser Stimme.
Wingate starrt mich an, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass ich nicht an Neil Armstrongs Spaziergang auf dem Mond glaube. »Nicht?«
»Nein.«
»Also schön, das ist ... das ist sogar noch besser! Wir könnten ...«
»Ich bin nicht daran interessiert, aus den Arbeiten meines Vaters Geld zu schlagen.«
Er schüttelt den Kopf und hebt beschwörend die Hände. »Sie sehen das alles ganz falsch ...«
»Was für ein Bild ist so wunderbar, dass Sie es so nah bei sich aufbewahren?«, unterbreche ich ihn und deute mit der freien Hand auf die Holzkiste.
Die Frage überrascht ihn, und er antwortet ohne nachzudenken. »Ein Gemälde von einem anonymen Künstler. Ich finde seine Arbeiten faszinierend.«
»Sie mögen Bilder von toten Frauen?«
Wingate erstarrt und sieht mir misstrauisch in die Augen.
»Beantworten Sie meine Frage oder nicht?«
Er zuckt gleichmütig die Schultern. »Ich bin nicht hier, um Ihre Fragen zu beantworten. Trotzdem werde ich Ihnen eine Antwort geben. Niemand weiß, ob die Frauen tot sind oder nicht.«
»Kennen Sie die Identität des Künstlers?«
Wingate nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino, dann stellt er den Becher auf der Theke hinter ihm ab. Ich schiebe die Hand in die Tasche und spüre das kalte, beruhigende Metall der Sprühdose mit der chemischen Keule.
»Stellen Sie diese Frage als Journalistin?«, erkundigt er sich. »Oder als Sammlerin?«
»Ich kann mir höchstens das Sammeln von Erfahrungen und Stempeln in meinem Pass leisten. Ich dachte, Sie könnten das mit einem Blick auf meine Schuhe feststellen.«
Er zuckt erneut die Schultern. Schulterzucken bildet einen großen Teil seines Vokabulars. »Heutzutage weiß man einfach nicht mehr, wer Geld hat.«
»Ich möchte den Künstler kennen lernen.«
»Unmöglich.«
»Darf ich das Gemälde sehen?«
Er schürzt die Lippen. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.« Er geht herum zur offenen Seite der Kiste, stemmt die Füße in den Boden und greift hinein, um den goldenen Rahmen hervorzuziehen. »Könnten Sie mir vielleicht behilflich sein?«
Ich zögere, der Klauenhammer fällt mir ein, doch er sieht nicht aus, als wollte er mich erschlagen. Ich war in Situationen, in denen Leute genau das tun wollten, und ich vertraue meinen Instinkten mehr, als andere es vielleicht täten.
»Halten Sie die andere Seite fest, während ich ziehe«, sagt er.
Ich stelle meinen Cappuccino auf dem Boden ab und packe die andere Seite der Kiste, während Wingate einen gepolsterten Metallrahmen hervorzieht, in dem der goldene Rahmen befestigt ist.
»Da«, sagt er. »Jetzt können Sie es sehen.«
Ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, um die Kiste herumzugehen oder zu bleiben, wo ich bin. Aber ich muss das Bild sehen. Vielleicht erkenne ich eines der Opfer, die vor Jane verschwunden sind.
Doch in dem Augenblick, in dem ich das Gesicht der Frau erblicke, weiß ich, dass sie mir fremd ist. Ich hätte sie kennen können – sie sieht aus wie zehntausend andere Frauen in New Orleans auch, eine Mischung aus französischem Blut mit einem Schuss afrikanischem, was in einer natürlichen Schönheit resultiert, die man sonst nirgendwo in Amerika findet. Ihre Haut müsste die Farbe von Milchkaffee haben, doch tatsächlich ist sie porzellanfarben. Ihre Augen sind weit geöffnet und starr. Natürlich sind Augen in Gemälden immer starr, erst das Talent des Künstlers erweckt sie zum Leben. Doch in diesen Augen ist kein Leben, nicht eine Spur davon.
»›Schlafende Frau Nummer zwanzig‹«, sagt Wingate. »Gefällt Ihnen dieses Bild besser als die Gemälde unten?«
Erst jetzt sehe ich den Rest des Werkes. Der Künstler hat sein Modell gegen eine Wand gelehnt, die Knie an die Brust gezogen, als würde sie sitzen. Doch sie sitzt nicht. Sie lehnt bloß da, der Kopf kraftlos auf den Schultern, während sie von einem Sturm aus Farben umgeben ist. Helle, leuchtende Vorhänge, ein blauer Teppich, ein Lichtstrahl von einem Fenster außerhalb des Bildes. Selbst die Wand, an der sie lehnt, ist das Produkt Tausender winziger bunter Pinselstriche. Einzig und allein die Frau ist in verblüffendem Realismus gehalten. Sie sieht aus wie aus einem Rembrandt geschnitten und in diesen Wirbelwind aus Farben eingesetzt.
»Ich mag es nicht. Aber ich denke ... ich denke, wer auch immer es gemalt hat, ist sehr talentiert.«
»Ungeheuer talentiert.« Echte Begeisterung brennt in Wingates
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