Infernal: Thriller (German Edition)
Ihnen das etwas aus?«
»Nein. Ich denke genauso. Ich wünschte, es wäre anders, doch ich kann mir nicht vorstellen, wo die Opfer so lange geblieben sein sollen. Elf Frauen – vielleicht inzwischen zwölf –, die alle an irgendeinem verborgenen Ort gefangen gehalten werden, und das seit zweiundzwanzig Monaten? Ohne dass einer einzigen die Flucht gelungen wäre? Ich wüsste nicht, wie das möglich sein soll. Außerdem sehen die Frauen auf den späteren Bildern alle tot aus.«
»Sie haben viele Tote gesehen.«
»Ja. Ich habe allerdings eine Frage. Sind Sie sich des Anrufs bewusst, den ich vor etwa acht Monaten erhalten habe?«
»Sie meinen jenen Anruf mitten in der Nacht? Von dem Sie dachten, es könnte Ihre Schwester sein?«
»Ja. Das FBI hat ihn zu einem Bahnhof in Thailand zurückverfolgt.«
Lenz lächelt mitfühlend. »Ich bin vertraut mit diesem Zwischenfall. Meiner Meinung nach ist die Vermutung zutreffend, die Sie am nächsten Morgen geäußert haben. Dass es möglicherweise jemand gewesen ist, den Sie während Ihrer Bemühungen kennen gelernt haben, Ihren Vater aufzuspüren. Ein Angehöriger eines anderen Vermissten aus der Vietnam-Zeit.«
»Ich dachte nur, vielleicht ... ich habe die Bilder schließlich in Asien entdeckt ...«
»Wir werden dieser Spur selbstverständlich nachgehen, seien Sie versichert. Doch wenn es Ihnen möglich ist, würde ich nun gern weitermachen.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie Ihrer Schwester als erwachsene Frau nicht mehr so nahe gestanden wie früher, deswegen würde ich gern wissen, wie Sie aufgewachsen sind. Was Janes Persönlichkeit geformt hat. Und Ihre eigene selbstverständlich.«
In Momenten wie diesen würde ich zu gern eine Zigarette rauchen. »Also schön. Sie wissen, wer mein Vater war, richtig?«
»Jonathan Glass, der bekannte Kriegsberichterstatter.«
»Genau. Und in Mississippi gab es nur einen Krieg. Den Kampf um die Bürgerrechte. Damals gewann mein Vater seinen ersten Pulitzer. Dann reiste er ab zu den anderen Kriegsschauplätzen, was bedeutete, dass er so gut wie nie zu Hause war.«
»Und wie hat die Familie darauf reagiert?«
»Ich kam besser damit zurecht als meine Schwester oder meine Mutter. Ich verstand, warum er gehen musste, obwohl ich noch ein Kind war. Warum sollte man im Mississippi-Hinterland herumhängen, wenn man durch die ganze Welt streifen und zu den Orten reisen kann, die auf seinen Bildern zu sehen sind?«
»Sie wollten als Kind zu den Kriegsschauplätzen?«
»Dad hat alle möglichen Bilder in den betroffenen Ländern gemacht. Ich habe keins von seinen Kriegsbildern gesehen, bis ich alt genug war, in die öffentliche Bibliothek zu gehen und ›Look‹ und ›Life‹ zu lesen. Mutter wollte die Bildbände nicht zu Hause haben.«
»Warum hat Ihre Mutter jemanden geheiratet, der nie zu Hause war?«
»Als sie ihn geheiratet hat, wusste sie nichts davon. Er war ein großer, attraktiver Schotte, der aussah, als würde er mit allem fertig, was sich ihm in den Weg stellt. Und er wurde mit einer ganzen Menge fertig. Er konnte mit nichts außer einem Taschenmesser im Dschungel überleben. Was er nicht überleben konnte, war das Leben als Ehemann in Mississippi. Und einen gewöhnlichen Job mit geregelten Arbeitszeiten. Das war die Hölle für ihn.
Er versuchte, es ihr recht zu machen, sie bei sich zu behalten, als seine Karriere ihren Anfang nahm. Er nahm sie sogar mit sich nach New York. Sie hielt durch, bis sie schwanger wurde. Als sie im achten Monat war, nahm er einen Auftrag in Kenia an. Sie ging mit sechs Dollar in der Tasche zur Grand Central Station und fuhr bis nach Memphis. Dann mit dem Bus von Memphis nach Oxford, Mississippi. Wäre sie nicht schwanger gewesen, als sie ging, wäre Daddy wahrscheinlich niemals wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber er kam zurück. Nicht besonders oft, doch wenn er zu Hause war, fühlte ich mich wie im Paradies. Wir hatten ein paar wunderbare Sommer.«
»Was war mit Ihrer Schwester Jane?«
»Für sie hat es nicht so viel bedeutet. Wir waren eineiige Zwillinge, doch emotional unterschieden wir uns bereits ziemlich früh – teilweise lediglich aufgrund von Pech.«
»Wie das?«
»Jane wurde von einem Hund angefallen, als sie vier war. Er hat ihr den Arm zerfetzt.« Ich schließe die Augen bei der Erinnerung; ein wilder Angriff, den ich aus vierzig Metern Entfernung beobachtete. Als meine Mutter bei Jane ankam, war es bereits zu spät. »Sie bekam
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