Infernal: Thriller (German Edition)
sah. Heute ... ich weiß es nicht.«
Als de Becque schweigt, frage ich: »Was glauben Sie? Sind die Frauen lebendig oder tot?«
Der Franzose seufzt. »Tot, würde ich sagen.«
Aus irgendeinem Grund deprimiert mich seine Meinung weit stärker als die von jemandem wie Dr. Lenz.
»Allerdings«, fügt er hinzu, »allerdings nehme ich nicht an, dass alle das gleiche Schicksal teilen.«
»Warum nicht?«, fragt Kaiser.
»Missgeschicke passieren. Kein Plan ist vollkommen. Ich würde die Hoffnung nicht für absurd halten, dass eine oder mehrere von den neunzehn Frauen irgendwo noch am Leben sind.«
»Sind es neunzehn Frauen?«, fragt Kaiser. »Wir versuchen, die Bilder mit den Opfern in Übereinstimmung zu bringen, doch wir stoßen auf Schwierigkeiten. Es gibt nur elf Entführungsopfer in New Orleans. Falls jedes Gemälde eine andere Frau zeigt, dann gibt es acht weitere Opfer, von denen wir nichts wissen.«
»Vielleicht sind diese acht gewöhnliche Modelle gewesen?«, schlägt de Becque vor. »Bezahlt für ihre Sitzungen und längst vergessen. Haben Sie diese Möglichkeit bedacht?«
»Das würden wir gerne glauben. Doch die abstrakte Natur der frühen Gemälde macht es uns unmöglich, die Gesichter Opfern zuzuordnen. Es ist uns nicht einmal gelungen, sie den elf bekannten Opfern zuzuordnen.«
»Die frühen Werke sind nicht abstrakt«, sagt de Becque. »Sie sind im impressionistischen, oder besser im neo-impressionistischen Stil gemalt. Dabei werden winzige Punkte aus den Grundfarben ganz dicht nebeneinander gesetzt, um gewisse Effekte hervorzurufen, statt die Farben zu mischen. Das Ergebnis ist der Art und Weise, wie das menschliche Auge Licht empfindet, sehr viel ähnlicher. Wahrscheinlich wurden die Bilder sehr schnell gemalt und die Gesichter nur angedeutet, anstatt deutlich herausgearbeitet.«
»Oder der Maler wollte ihre Identität verschleiern«, sagt Kaiser.
»Das wäre ebenfalls möglich.«
»Falls eine oder mehrere dieser Frauen noch am Leben sind«, frage ich, »wo könnten sie sein? Warum haben sie sich nicht längst gemeldet?«
»Die Welt ist sehr, sehr groß, chérie . Und sie ist voller Leute mit den merkwürdigsten Vorlieben. Ich mache mir offen gestanden Ihretwegen mehr Gedanken. Ich denke, der Mann, der diese Bilder schuf, erlebt eine instabile Zeit.« De Becques Augen sehen mich beschwörend an. »Ich denke außerdem, dass Ihre Verbindung zum FBI ihn auf Sie aufmerksam machen könnte. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«
»Sie wird beschützt«, sagt Kaiser.
»Gute Absichten reichen nicht, Monsieur. Miss Glass sollte in Erwägung ziehen, hier bei mir zu bleiben, bis die ganze Angelegenheit vorüber ist.«
»Was?«, frage ich.
»Sie könnten selbstverständlich kommen und gehen, wann und wie Sie wollen. Aber hier kann ich Sie beschützen. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht viel Vertrauen in das FBI.«
»Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, Monsieur, doch ich möchte weiter mithelfen, diesen Mann aufzuhalten.«
»Dann nehmen Sie einen Ratschlag von mir an. Seien Sie sehr vorsichtig. Diese Gemälde zeigen einen Künstler auf der Suche nach sich selbst. Seine frühe Arbeit ist wirr und nachahmend, bedeutsam nur für das, wo sie hingeführt hat. Die gegenwärtigen Bilder zeigen uns einen bestimmten Anblick des Todes. Wohin wird sich dieser Künstler entwickeln? Niemand kann das vorhersagen. Doch ich würde Sie nicht gern auf einer der nächsten Auktionen sehen.«
»Falls Sie mich sehen, kaufen Sie mich. Ich würde lieber hier hängen als irgendwo in Hongkong.«
Ein strahlendes Lächeln teilt das gebräunte Gesicht des Franzosen. »Ich würde jeden anderen überbieten, chérie . Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Unvermittelt steht de Becque auf und blickt durch sein großes Glasfenster auf die Bay hinaus. Ich habe in meinem Leben eine Reihe prominenter Gefangener fotografiert, und irgendetwas in der Haltung des Franzosen erinnert mich an diese Gelegenheiten. Der ausgebürgerte Flüchtling in seinem Multi-Millionen-Dollar-Herrenhaus mit einem Vermögen in Kunst an den Wänden hat viel gemeinsam mit dem ärmsten Sträfling, der in seiner Zelle in Angola oder Parchman auf und ab wandert.
»Ich denke, es ist Zeit, zu gehen«, sage ich zu Kaiser.
Ich warte, ob sich de Becque noch einmal zu mir umdreht, doch er regt sich nicht. Als ich zur Tür gehe, sagt er mit melancholischer Stimme: »Trotz allem, was Ihr Freund sagt, Jordan, vergessen Sie eines nicht: Die Franzosen wissen,
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