Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
angenehm.
Zane erreichte einen sonnenbeschienenen Mittelhof, wo er einen dunkelgrünen Thron aus Jadestein
erblickte, der von Nebelschwaden umhüllt war. Dies war der Thronsaal der Natur.
»Willkommen, Thanatos«, erscholl ihre Wind-und-Vogel-Stimme. »Wunderst du dich über die
Hindernisse?«
»Ja«, stimmte Zane kurzangebunden zu. Es gefiel ihm nicht besonders, daß sie den griechischen
Namen des Todes benutzte. »Wenn du schon mit mir sprechen wolltest, dann hättest du mir mein
Kommen wenigstens etwas erleichtern können.«
»Oh, aber das habe ich doch getan, Thanatos!« protestierte sie und kam ihm entgegen. Mit ihr
zusammen schob sich auch eine Nebelschwade voran; das war tatsächlich ihre Kleidung, die sich
geschickt an den wichtigsten Stellen verdünnte oder verdickte. Zane war von diesem Effekt
fasziniert, wenngleich er sich sicher war, daß die Natur kein junges Wesen sein konnte.
»Auf welche Weise?«
»Ich habe einen Pfad angelegt, den nur einer von uns beschreiten kann«, erklärte sie.
»Normalerweise gibt es überhaupt keinen Pfad, und kein anderes Wesen kommt hier hindurch. Dieser
Pfad würde sowohl ein voll sterbliches als auch ein voll unsterbliches Wesen abhalten,
beispielsweise also auch einen Diener der Ewigkeit. Damit ist unsere Ungestörtheit
gesichert.«
»Das habe ich zuerst auch geglaubt - aber es gab doch noch eine ganze Reihe anderer Leute dort«,
bemerkte Zane. »Idioten zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Dreimal bin ich fast in einen
Zusammenstoß geraten.«
»Ach, tatsächlich?« fragte sie ohne jede Überraschung.
»Nun tu doch nicht so, als wüßtest du nichts davon, Grüne Mutter!«
Die Natur lächelte, als hätte er ihr ein Kompliment gemacht.
Ihr Gesicht war recht hübsch, von etwas wildem, fließendem Haar umrahmt, das so grün wie Gras und
so blau wie Wasser war und dessen Farben sich in einer Art Pseudoschillern ineinander verschoben.
Als ihre Augen seinen Blick trafen, waren sie wie Eis, tiefe Teiche, von Feuerzungen
durchzuckt.
Er hatte schwarze Opale gesehen, die diesen Augen geglichen hatten. Diese Frau, so erkannte er
nun, besaß eine ehrfurchtgebietende Macht; die durfte man wirklich nicht unterschätzen!
»Ich weiß, daß nur du diesen Weg entlanggereist bist, Thanatos.«
»Was war dann mit den anderen? Habe ich mir die nur eingebildet?«
Sie seufzte lächelnd, wobei sich ihr nebliger, üppiger Busen wie eine sich auflösende Wolke
zusammenzog. »Ich stelle fest, daß du mit meinen kleinen Eigenarten noch nicht so recht vertraut
bist. Diese anderen warst du.«
»Das bezweifle ich. Mit derlei Störungen wollte ich nichts zu tun haben.«
»Nimm Platz, Thanatos«, sagte sie, wobei sie eine Rattanschlinge mit einer Hand betätschelte, die
von Perlmutt schimmerte. Ihr gehörte alles, was belebt war, erkannte Zane, einschließlich Perlen,
die Produkte lebender Wesen. »Ich werde diesen Punkt erklären, damit wir uns dann unserem
eigentlichen Thema zuwenden können.«
Zane setzte sich, denn der Befehl der Grünen Mutter duldete keinen Ungehorsam. Der Rattan schien
sich seinem Körper mit beinahe peinlicher Intimität anzupassen, was ihm äußerst unangenehm war.
»Tu das.«
»Oft ist man sein eigener Feind, wenn man es doch nur immer wüßte. Das liegt in der Natur des
Tieres. Das weiß ich sehr wohl.«
Natürlich wußte die Natur um die Natur des Menschen! Das war schließlich ihr Beruf. Doch was
hatte dies mit dem Hindernislauf zu tun? »Du hast einmal ein Fahrzeug gefahren«, fuhr sie fort.
»Einmal bist du auf einem Gerät geritten, einmal hast du dich allein bewegt. Du warst eins und du
warst drei, nur die Szenerie hatte sich verwandelt, um die Objektivität zu erleichtern.«
»Ich war in drei Begegnungen verwickelt«, stimmte Zane ihr zu. Dieses weibliche Wesen schien auf
beunruhigende Weise über tiefes Verstehen zu verfügen, doch noch begriff er nicht, worauf es
hinauswollte.
»Du warst drei. Eine Begegnung, drei Ansichten. Du hast dich selbst aus drei verschiedenen
Perspektiven gesehen. Drei Chancen, um auf dich selbst zu reagieren.«
»Ich war drei?« fragte Zane verwirrt.
»Auf dem Pfad befand sich nur einer, und zwar du. Nur die Zeit war gewissermaßen verbogen.«
Sie lächelte geheimnisvoll, und ihre Zähne glitzerten einen Moment lang wie Fänge. Natur, von
rotem Zahn und blut'ger Klaue... »Chronos war mir noch einen Gefallen schuldig. Allein hätte
ich die Zeitkrümmung nicht vollbracht. Wir Inkarnationen helfen einander
Weitere Kostenlose Bücher