Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
Seele ein. Er zerrte daran und zog sie ein Stück aus ihrem Körper
hervor.
Sie versteifte sich, als litte sie unter plötzlichem Schmerz.
Dann verließ Zanes erotisches Gefühl ihn so schnell, wie es gekommen war. Ihr Zauber war
gebrochen. Er ließ ihre Seele wieder los und nahm die Hand von ihrem Fleisch zurück.
Die Natur atmete tief und etwas zitternd ein, und der Nebel um sie herum waberte intensiv. Sie
hatte ein wenig von ihrer Fassung eingebüßt. »Ich habe dir einen Teil meiner Macht gezeigt«,
keuchte sie. »Und du hast mir einen Teil der deinigen offenbart.«
Wieder einmal hatte Zane eine Erleuchtung. »Ich habe tatsächlich Macht über die Lebenden - bis zu
einem gewissen Punkt!« Er erinnerte sich an seine Klientin in dem Krankenhaus, die alte Frau, die
seiner Mutter geglichen hatte, und wie sie reagierte, als er das erste Mal versuchte, ihr die
Seele zu entnehmen. Es mußte ein fürchterlicher Schock sein, die Seele bei lebendigem Leib
herausgerissen zu bekommen.
»Das hast du in der Tat, Thanatos. Niemand kann eine Inkarnation auf ihrem eigenen Spezialgebiet
schlagen, nicht einmal eine andere Inkarnation. Es hat nicht den geringsten Wert, wenn wir
einander bekämpfen. Die Natur regiert das ganze Leben - aber sie regiert nicht den Tod. Die
individuellen Kräfte, über die jeder von uns verfügt, sind unangreifbar. Niemand...« Sie hielt
inne und warf ihm einen rätselhaften, bedeutungsschwangeren Blick zu: Ihre Augen waren wie das
Wirbeln eines nächtlichen Sturms. »Niemand kann einem anderen von uns ungestraft in die
Quere kommen.«
Zane war von ihrer Enthüllung erschüttert. Bisher war ihm nicht klargewesen, wie unmittelbar und
spezifisch sie ihn beeinflussen konnte, oder wie er sie seinerseits zu beeinflussen vermochte.
Seine eigene Kraft hatte ihn ebenso überrascht, wie die ihre. Doch nun faßte er sich wieder und
kehrte zum Thema zurück.
»Also hast du mich hierher gerufen, um mir etwas zu sagen, und um mir etwas zu zeigen, indem du
mir Schwierigkeiten in den Weg legst. Was hast du wirklich im Sinn?«
Wieder zuckte sie die Schultern. Anscheinend gefiel ihr diese Bewegung. Sie hatte sich wieder
gefangen. Natürlich war sie eine außerordentlich zähe Kreatur. »Du hast die anderen schon
kennengelernt.«
»Ich nehme an, du meinst die anderen Spezialgestalten - Zeit, Schicksal, Krieg. Ja, kurz.«
»Wir sind wirklich etwas Besonderes. Wir sind sterbliche Unsterbliche. Wir unterscheiden uns
voneinander, aber wir arbeiten auf verschlungene und doch lebenswichtige Weise zusammen, indem
wir unsere jeweiligen Vektoren einsetzen.«
»Vektoren?«
»Nun, du glaubst doch wohl nicht etwa, daß auch nur einer von uns völlig frei ist, oder? Das, was
wir tun, tun wir nicht nur aus Lust und Laune. So wie die Vektoren des Schubs, des Auftriebs, des
Winds, der Temperatur, der Luftfeuchtigkeit, des Luftdrucks und der geographischen Bedingtheit
miteinander interagieren, um genau zu bestimmen, wohin ein geworfener Ball fallen wird, so
bestimmen auch die relevanten Faktoren, wie ein Krieg verlaufen wird oder in welche Richtung sich
eine Kaltfront bewegt oder wann ein bestimmtes Leben enden wird. Das Ganze mag aussehen wie
Zufall oder Willkür, aber das liegt nur daran, daß kein Sterblicher und nur wenige Unsterbliche
verstehen können, wie diese aktiven Kräfte tatsächlich funktionieren. Wir sind nicht frei - niemand ist absolut frei -, und doch haben wir einen bestimmten Spielraum, innerhalb
dessen wir unser Amt ganz individuell ausüben können. Jede Inkarnation kann die andere in
beschränktem Ausmaß kontern, sofern die andere dies zuläßt, aber wir ziehen es vor, dies nicht zu
tun, es sei denn, es gibt einen triftigen Grund dafür.«
Nun wurde Zane neugierig. »Wie kann man den Tod kontern, selbst wenn der Tod dies erlaubt?«
»Die Schicksalsgöttin könnte dafür sorgen, daß er ersetzt wird, indem sie seinen Faden
abtrennt.«
Nun fuhr es ihm eisig über den Rücken, denn er wußte, daß dies schon einmal geschehen war. »Die
Schicksalsgöttin... Warum sollte sie dies je tun wollen?«
»Chronos könnte beispielsweise eine nahende Begegnung aufhalten.«
»Ja, aber warum...«
»Mars könnte gesellschaftliche Unruhen herbeiführen, die das gesamte Bild verändern
würden.«
Sie wich anscheinend seiner Frage aus. Dennoch schien es die Sache wert, nachzuhaken. »Und was
ist mit der Natur? Welchen raffinierten kleinen Trick hast du noch in deinem Nebelärmel,
abgesehen von der
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