Inkarnationen 02 - Der Sand der Zeit - V3
ungekämmt, sein Gesicht hatte er
heute noch nicht rasiert. Norton wußte nicht, was er zu dieser Stunde zu Hause tat; vielleicht
litt diese Familie unter der Arbeitslosigkeit, welche die Gesellschaft immer wieder periodisch
heimsuchte, so daß sie von Staatsgeldern lebte, während sie darauf wartete, daß sich die
Wirtschaftslage verbesserte. Der Mann entgoß die letzten Biertropfen in die Flasche, als die
letzte Blase sich in seinen Mund senkte, dann schloß er sie und stellte die Flasche in den
Kühlschrank. Erst jetzt bemerkte er Norton.
Norton zeigte seine letzte Nachricht vor: Die Welt läuft rückwärts, in der
Hoffnung, daß er auf diese Weise die Reaktion eines eifersüchtigen Ehemanns verhindern könnte.
Die Frau versuchte wieder, ihren Morgenmantel zusammenzuraffen, doch einmal mehr gab sie dadurch
nur Intimteile preis.
»sträwkcür tztej nebel riW« erklärte sie.
»?sad tsi, lefueT muz, reW« wollte der Mann wissen und sah Norton dabei böse an.
»nenomäD rov hcis tkcetsrev rE« sagte sie ihm.
»... mH« fing er an, dann stockte er. »?sträwkcüR«
»sträwkcüR« bestätigte sie mit Festigkeit in der Stimme.
»!nemmokeg fpoT mov tsre edareg hcod nib hci rebA« sagte er verärgert.
Die Frau musterte ihre unverzehrte Zwischenmahlzeit.
»?aj,hcA« fragte sie, als sie begriff. »... sad tetuedeb nnaD«
»!thcin saD« rief er aus. »!thcin se tut,nien,hO«
Inzwischen hatte Norton herausbekommen, was »fpoT« bedeutete. Er unterdrückte ein Lächeln.
»!reih nov ba euah hcl« schrie der Mann und jagte rückwärts aus der Küche hinaus. Doch seine
Reflexe verrieten ihn. Der Dialog mit seiner Frau war für beide durchaus vernünftig gewesen, doch
ihr Tun blieb rückläufig, und wenngleich ihre einzelnen Sätze und Ausdrücke rückwärts
ausgesprochen waren, schien ihr verbaler Austausch doch eher ein Zeichen ihres gegenwärtigen
Bewußtseinszustandes zu sein. Nortons Anwesenheit veränderte ihre Gegenwart zwar in bestimmtem
Ausmaß, kehrte sie jedoch nicht vollkommen um. Trotz seines Entsetzens wich der Mann offenbar
direkt ins Badezimmer zurück.
Nun, dachte Norton, das war eben die notwendige Konsequenz einer rückläufigen Biologie.
»!nien,nieN« schrie der Mann aus dem verborgenen Zimmer. Man hörte, wie die Toilette rückwärts
lief. Eine Pause, und ein Schrei, der von schierem Entsetzen und Zorn kündete. Offensichtlich war
die Sache erledigt oder entledigt, je nachdem.
Norton beschloß, das Haus zu verlassen, bevor der Mann wieder in die Küche zurückkehrte, denn
nach der Aufnahme jener häßlichen Last würde er möglicherweise auch in häßlicher Stimmung sein.
Er öffnete die Tür einen Spalt und blickte hinaus.
Die Dämonen waren verschwunden. Er war durch die Maschen ihres Netzes geschlüpft. Nun schlich er
aus dem Haus und überließ die Familie ihren Anpassungsbemühungen. Das letzte, was er noch sah,
als er einen Blick zurückwarf, war das Gesicht der Frau, die zum Bad hinüberblickte. Es trug
einen etwas hämischen Ausdruck.
Norton schritt über die Straße, dann ging er vorsichtig rückwärts in einen kleinen Park. Dort
suchte er sich eine isolierte Bank aus, auf der er Platz nahm. So erregte er wenigstens keine
Aufmerksamkeit.
Etwa eine Stunde war verstrichen; die Parkuhr zeigte kurz nach 10.00 Uhr. Norton sah zu, wie der
Stundenzeiger zurücksprang und hörte die Uhr zehnmal schlagen. Sogar das war rückwärts: gnoD,gniD. Er bemerkte, wie die Eichhörnchen rückwärts von Ast zu Ast hüpften und Nüsse
aus verstreuten Schalen und Bröckchen zusammensetzten. Gelegentlich kam rückwärts ein Mensch
vorbei und ließ ganze Erdnüsse in seine Hand springen, wo er sie in einer Tüte verstaute.
Ein junges Paar kam rückwärts an Norton vorüber und verschwand hinter seiner Bank im Gebüsch. Die
beiden bemerkten ihn nicht, so sehr waren sie auf sich selbst konzentriert. Doch bemerkten sie
schon bald die Umkehrung, was ihr zärtliches Verhalten zu beeinflussen schien. Ungeniert lauschte
Norton und versuchte sich vorzustellen, was dort soeben geschah.
Erst Befriedigung zu erfahren, gefolgt vom Streben nach dem Höhepunkt - das konnte sehr
irritierend sein.
Tatsächlich kam das Pärchen nach einer Weile mit verwirrten Gesichtern wieder aus dem Gebüsch
hervor.
Langsam bewegte sich die Sonne gen Osten. Der Morgen nahte. Auf der Straße entwickelte sich der
Verkehr der Stoßzeit, wie verrückt drängten Wagen und fliegende Teppiche mit wahnwitziger
Geschwindigkeit
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