Inkarnationen 02 - Der Sand der Zeit - V3
Sanduhr auf diesen Faden, dann wirst du sie überall
finden, wo du nur willst.«
Norton berührte den Faden mit der Sanduhr, dann befahl er dem Sand blau zu werden.
Plötzlich verschwand das Haus um ihn herum. Wie in einer Seilbahn jagte er den Faden entlang. Die
Ereignisse der Welt stürmten vorbei. Langsamer, dachte er, und das Aufblitzen verlängerte
sich.
Es war Orlenes Leben, dem er hier zu seinem Beginn folgte. Ihre individuellen Bewegungen waren zu
schnell für ihn, als daß er sie genauer hätte wahrnehmen können, doch ihre Umgebung war
beständiger. Ein Gebäude, in dem sie eine gewisse Zeit verbracht hatte - vielleicht eine Schule -
verschwand abrupt. Es war entbaut worden, und sie bewegte sich weiter auf eine vorhergehende
Schule, die überfüllt war. Bäume um ihr Zuhause schrumpften langsam zusammen, das Wiesengras
sprang immer wieder empor, um sich glattzulegen, bis es schließlich kahl war, und dann,
hochgewachsen, wieder gemäht zu werden. Das Haus leuchtete frisch angestrichen und wurde abrupt
wieder stumpf.
Willkürlich befahl er einen Halt. Er befand sich in einem Klassenzimmer und musterte ein Mädchen
von ungefähr zehn Jahren. Die Szene war seltsam, da sie rückwärts ablief. Er hatte sich selbst
zum Stillstand gebracht, nicht jedoch die Zeit, und nun lebte er - für seine Begriffe - in die
normale Richtung. Niemand hier bemerkte ihn, und er verzichtete darauf, sich sichtbar zu machen,
um die Szene nicht zu stören.
Es war eine Kochstunde. Die Lehrerin führte gerade vor, wie man mit Hilfe von Pyromagie eine
Pastete backte. Unter ihrer rückwärts verlaufenden Anweisung veränderte sich die Musterpastete
von Braun zu Gold und schließlich zu blassem Weiß. Norton beobachtete Orlene, die in diesem Alter
bereits ein sehr hübsches Mädchen war. Sie schwatzte gerade mit einer Klassenkameradin.
Vermutlich würde ihre Pastete ein Reinfall werden.
Er färbte den Sand in der Uhr rot und bewegte sich einige Jahre in die Zukunft dieser Orlene
hinein, um sie erneut beobachten zu können. Diesmal lag sie zu Hause im Bett, in Jeans und ein
Männerhemd gekleidet, und plapperte in ihr Holophon. Das Holobild zeigte einen lebhaften Jungen
mit struppigem Haar, offensichtlich erfüllt von der Begeisterung des Augenblicks. Orlene war nun
ungefähr fünfzehn und hatte bereits sehr viel von ihrer späteren Schönheit und einigen
Verhaltensweisen der erwachsenen Frau an sich. Ein Anflug von Nostalgie überfiel ihn.
Er reiste drei weitere Jahre in ihrem Leben in die Zukunft, bis sie achtzehn war. Nun spielte sie
mit einem jungen Mann Squash. Es war ein Spiel, das die aktiven Spieler in enge Nähe miteinander
brachte, weshalb gemischte Paare es sehr schätzten. Ihre Bewegungen, diese Gliedmaßen, dieser
Körper, dieses Gesicht mit den zurückwehenden Haaren - er hatte all die gekannt, in ihrer
gegenwärtigen Zukunft. Diese Lippen - er hatte sie geküßt, in einigen Jahren. Orlene - er würde
sie lieben und liebte sie noch immer.
Er folgte ihr zurück bis zum Anfang des Spiels, als sie noch frisch und energiegeladen war. Sie
grüßte ihren Partner und schritt rückwärts von ihm zur Umkleidekabine zurück. Norton zögerte,
dann entschied er, ihr nicht dorthin zu folgen; es wäre unangebrachtes Schnüffeln gewesen.
Er wollte kein Ungeheuer sein. Er wollte die Frau retten, die er liebte, retten vor ihrem
schrecklichen Schicksal.
Nun wußte er, daß er es tun konnte, das hatte ihm seine Erfahrung mit dem Gäm im Glob gezeigt. Er
war immun gegenüber dem Paradox. Er konnte seine eigene Vergangenheit und die anderer verändern,
ohne seine Gegenwart dadurch aufzuheben. Er hatte nicht vor, diese Macht zu mißbrauchen, doch er
hegte in der Tat die Absicht, Orlene ihr Schicksal zu ersparen.
Wo, oder besser: wann sollte er eingreifen?
Wahrscheinlich bevor er ihr begegnet war, damit er nicht offenkundig Einfluß auf sich selbst
nehmen mußte. Würde dies seine Verbindung zu ihr aufheben?
Ja, doch ihre Beziehung würde durch eine neue ersetzt werden, durch eine bessere. Tatsächlich
könnte er die gesamte Gespensterehe im Nichts auflösen und sie selbst heiraten.
Doch zunächst einmal mußte er sich von seiner wirklichen Macht überzeugen. Er wollte einen
aktiven Kontakt zu ihr in einer nichtkritischen Phase ihres Lebens herstellen, um seinen Plan
noch einmal zu überprüfen. Schließlich war dies keine gewöhnliche Person - es war Orlene!
Er folgte dem Schicksalsfaden bis zurück in ihre
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