Inkarnationen 02 - Der Sand der Zeit - V3
Kindheit, in die Zeit, da sie sieben Jahre alt
war und gerade ihre ersten Sommerferien hatte. Sie war ein Geist mit Haaren von der Farbe wilden
Honigs, der durch einen der frühen Dachparks der Stadt rannte. Die Bäume befanden sich noch immer
in großen Töpfen, und es waren noch Erdaufwürfe zu sehen; die wirkliche Wildnis sollte erst
zukünftigen Parks vorbehalten bleiben. Noch immer war die Welt von der schlimmen Verschmutzung
alter Zeiten geprägt. Bald würde sich das politische Klima ändern, was der Veränderung zum
Besseren erhebliche Schubkraft verleihen würde; doch soweit war es noch nicht.
Sie befand sich inmitten einer Kindergruppe, löste sich aber von ihr, hüpfte glückselig einen
Nebenpfad entlang und verirrte sich. Besorgt musterte sie die Vielzahl von Wegegabelungen und
wußte nicht so recht, welche sie nehmen sollte. Norton, der ihre unmittelbare Zukunft bereist
hatte, wußte, daß sie gute fünfunddreißig Minuten lang verschollen bleiben sollte, in diesem
Alter eine wahre Ewigkeit, und daß sie in Tränen ausbrechen würde, bevor ein Parkwächter sie aus
ihrer mißlichen Lage rettete und zurück zu ihrer Gruppe brachte. Dies war die geeignete Zeit, um
sich ihr zu nähern.
Er stellte sich auf den Anfang ihrer Isolation ein und ließ den Sand grün werden. Nun befand er
sich mit ihr in einer Zeitphase.
»Hallo, Orlene«, sagte er sanft. Er war ein erwachsener Mann und sie war nur ein Kind, dennoch
war er schüchtern.
Sie hielt in ihrem nervösen Umherirren ein und drehte sich schnell zu ihm um. »Oh - Sie habe ich
ja gar nicht gesehen!« rief sie. »Wer sind Sie, in diesem komischen Kleid?«
»Ich bin...«, er zögerte; er hatte die Sache noch nicht durchdacht. Er konnte ihr schließlich
nicht erklären, daß er Chronos war; das würde sie wohl kaum verstehen.
Ebensowenig konnte er ihr erläutern, daß er ihr zukünftiger Liebhaber war. »Ein Freund.«
»Können Sie mir sagen, wie ich zurückfinde?«
»Ich werde es versuchen. Ich glaube, es geht dort entlang.« Er zeigte auf den richtigen Pfad, und
gemeinsam gingen sie ihn entlang.
»Woher kennen Sie meinen Namen?« fragte Orlene.
»Ich habe dich in der Schule gesehen.«
»Oh, Sie sind also ein Lehrer!« rief sie, als wäre dies die wichtigste Sache auf der Welt.
»Nun...« Doch schon hüpfte sie ein Stück davon, und ihre Zöpfe schwangen dabei hin und her.
Ich liebe sie sogar als Kind, dachte er, vom Ausmaß seiner Zuneigung überrascht. Was
Frauen anging, so war er in der Tat recht oberflächlich und freizügig gewesen. Diese hier jedoch
hatte seine Seele in Ketten gelegt. Er ging ihr nach und versuchte, angebrachte Bemerkungen zu
machen oder Fragen zu erfinden, die er ihr stellen konnte.
Dann stieß Orlene einen frohen Ruf aus. »Da sind sie ja!« und rannte zu ihrer Gruppe.
Die Lehrerin drehte sich beim Klang ihrer Stimme um.
Hastig verschob Norton etwas Sand und verschwand aus dem Blickfeld der Gegenwart. Orlene war in
Ordnung. Sie war ein unschuldiges Kind und ihr war eine schlimme halbe Stunde erspart geblieben.
Er war froh, daß er ihr wenigstens diesen kleinen Dienst hatte erweisen können.
Sein Gespräch mit Orlene hatte also nichts bewirkt, da es nicht zu einer bedeutsamen persönlichen
Kommunikation gekommen war.
Nein, das stimmte nicht ganz. Sie würde wohl den Fremden in dem weißen Umhang vergessen, doch er
wußte nun, daß er sich besser auf etwaige Fragen vorbereiten mußte. Es war eine gute Übung
gewesen.
Nun würde er mit Zuversicht darangehen können, ihr Leben in wichtigen Aspekten zu
verändern.
Immer wieder fuhr er ihren Lebensfaden entlang, um den richtigen Punkt zu finden. Schließlich
gelangte er bis zu dem Zeitpunkt, da Gawains Familie Kontakt mit ihr aufgenommen und ihr ein
Angebot gemacht hatte, das sie nicht ablehnen konnte. Es hatte auch andere Männer in ihrem Leben
gegeben. Norton bespitzelte diese flüchtigen Beziehungen, ohne seine Eifersucht verleugnen zu
können. Doch er wußte aus eigener Erfahrung, daß sie eine jungfräuliche Braut gewesen war. Orlene
hatte nach dem Richtigen gesucht und ihn nicht unter jenen finden können, die attraktiv waren und
dumm, klug, aber arm, oder reich, aber degeneriert. Wie jedes vernünftige Mädchen wollte sie den
vollkommenen Mann. Deshalb war sie auch die vollkommene Kandidatin für die Gespensterehe:
attraktiv, intelligent, unberührt und von vernünftigem, maßvollem Streben nach Sicherheit und den
Annehmlichkeiten des Lebens
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