Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
den Jungen anerkennend betrachten. Von Erbrochenem war nichts zu sehen.
Dennoch sah sie nicht sehr gut aus.
Nach einer Weile hatte die Frau sich etwas erholt. »Woher haben Sie diese Brille?«
Wieder dachte Niobe schnell nach. »Von der... Natur.«
»Der... Inkarnation der Natur?«
»Ja. Sie dachte, daß ich sie hier gebrauchen könnte.«
»Darf... darf ich sie noch einen Augenblick ausleihen?«
Niobe reichte ihr das Lorgnon. »Wenn Sie genug haben, möchte ich mich gerne einmal mit Ihnen
unterhalten.«
Mira eilte zu einer weiteren Treppe. »Da gibt es noch eine Etage, in der ich mich noch nie
vergnügt habe, aber ich würde doch gerne einmal hineinsehen...«
Sie folgten ihr die Treppe hinab, fast im Eilschritt. Niobe war erstaunt zu erfahren, daß die
Frau wirklich nichts über das Täuschungsmanöver gewußt hatte, doch dann begriff sie. Satan konnte
sehr viel mehr Böses erreichen, wenn seine eigenen Helfer getäuscht wurden. Denn wie viele von
ihnen hätten sich von einem Eß-Paß locken lassen, wenn sie gewußt hätten, daß die Nahrung nur aus
Abfällen bestand?
Satan ist wirklich ein gerissener Lügner, stimmte Atropos ihr zu.
Die nächste Etage schien ein luxuriöses Bordell zu sein. Außerordentlich üppige junge Frauen in
spärlicher Kleidung tanzten mit trägen Bewegungen auf einer seitlich gelegenen Bühne, und ihre
Brüste und Hüften bewegten sich anzüglich. Dies hatte keine besondere Wirkung auf Niobe, nur ein
leiser Anflug von Neid und Bedauern über ihre eigene verlorene Schönheit überkam sie, doch sie
konnte gut erkennen, wie es auf die beiden Männer wirkte, die gerade aus dem Fahrstuhl stiegen.
Beide eilten sie geifernd vorwärts.
Was sind Männer doch für Schweine! dachte Clotho. Doch dann überlegte sie es sich noch einmal.
Bis auf Samurai...
Mira blickte durch die magischen Brillengläser.
»Nein«, sagte sie ungläubig. »Das darf doch nicht wahr sein!«
Einer der Männer rannte zur Bühne. »He, Süße, bist du zu kaufen?« wollte er wissen und grabschte
nach ihr. Die Frau blickte zu ihm herab. Ihr hell geschminkter Mund lächelte vielsagend. Dann
sprang sie mit einer tänzelnden Bewegung von der Bühne. Sie nahm den Mann bei der Hand und führte
ihn in ein Separee, das mit einem Vorhang verdeckt war. Offensichtlich mußte man sie nicht
bezahlen; man konnte sie umsonst haben.
Aus anderen Separees hörte Niobe angestrengtes Keuchen. Offensichtlich waren hier eine ganze
Reihe von Kunden beschäftigt.
Mira schüttelte den Kopf. »Sie sind es... sie sind es wirklich!« rief sie. Dann mußte sie lachen.
»Und wenn ich mir vorstelle, daß mein Ex-Mann, dieses Schwein, seine Seele dafür verkauft, um
jederzeit auf diese Etage zu dürfen!« Ihr Lachen wurde so heftig, daß Gäa ihr die Brille wieder
abnehmen mußte.
Verwundert nahm Niobe das Lorgnon entgegen. Sie konnte sich zwar vorstellen, daß man schlichte
oder sogar häßliche Frauen rekrutiert haben mochte, um sie durch Illusion zu verschönern, damit
die Leidenschaften etwaiger Anhänger befriedigt wurden, doch was war daran so komisch? Es war
doch bestenfalls traurig.
Sie hob die Brille und mußte keuchen.
Auf der Bühne tanzten keine jungen Frauen, sondern Schweine, echte, grunzende Schweine, die sich
im Schlamm suhlten. Sie befanden sich in einem Schweinestall. Und Miras Ex-Ehemann durfte, sooft
er wollte, auf diese Etage.
Wer sagt denn, daß es in der Hölle keine Gerechtigkeit gibt, dachte Atropos. Ich kenne
einige Männer, die ich gerne hierher schicken würde!
Mira beruhigte sich wieder soweit, um sich zurechtzufinden. »Sie sind keine gewöhnlichen
Interessenten«, sagte sie vorwurfsvoll. »Sie wußten, wie das hier in Wirklichkeit ist und
zwar besser als ich. Wer sind Sie?«
Es war an der Zeit, ihr die Wahrheit mitzuteilen. Sie setzten sich auf eine der wenigen sauberen
Plätze und sprachen miteinander. »Ich bin die Schicksalsgöttin«, sagte Niobe. »Ich bin gekommen,
um mich mit Ihnen zu unterhalten und Sie davon zu überzeugen...«
»Das Schicksal! Eine Inkarnation!«
»Und das hier ist Gäa, die mir das Lorgnon geliehen hat.«
»Die Natur! Kein Wunder, daß sie keine Brille braucht, um alles zu durchschauen!«
»Wir wollen Sie dazu überreden, Satan einen bestimmten Gefallen nicht zu tun!«
Mira lachte wieder, doch diesmal war es freudlos. »Wenn Satan will, daß ich etwas für ihn
erledige, dann werde ich auch etwas für ihn erledigen. Meine Seele ist bereits verloren!«
»Sie ist nicht
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