Inkarnationen 04 - Das Schwert in meiner Hand - V3
Ambiente. Doch zu
welchem Zweck war dieser Palast errichtet worden? Doch nicht etwa als Gefängnis für eine einzige
Seele? Das kam ihm ziemlich übertrieben vor. Verdammte Seelen ließen sich doch mit wesentlich
einfacheren und effektiveren Methoden bestrafen.
Der Prinz gelangte in die größte Halle. Dort stand ein Podest, auf dem eine Kiste aus
durchsichtigem Eis lag. In der Kiste befand sich ein Bett, und darauf ruhte eine wunderschöne,
junge Frau, die sich mit einem Tuch aus Schneeflocken zugedeckt hatte.
Eine Erinnerung drängte in sein Bewußtsein. Er konzentrierte sich darauf und wußte endlich, was
ihn so plötzlich beschäftigte: Im Abendland gab es doch ein Märchen über eine schlafende
Prinzessin, die ein Zauber zu hundert Jahren Schlaf verdammt hatte, bis ein Prinz kommen würde,
um sie zu befreien. Vermutlich war dieses Märchen von Dynastien erfunden worden, die
zueinanderfinden wollten, aber über noch keine geeigneten oder zu junge Heiratskandidaten
verfügten.
Nun, er war auch ein Prinz, und Lila hatte erzählt, Ligeia sei eine Prinzessin. Also war er doch
der rechte Mann am rechten Ort. Ligeia war schön, auch wenn er nicht wußte, wie lange sie hier
schon lag. Vielleicht hätte sie nach Kalenderjahren seine Großmutter sein können. Doch das
kümmerte ihn eigentlich nicht.
Er berührte die Kiste. Eine Art Eiskuppel schloß die Prinzessin ein. Nun, er hatte die Außenmauer
durchbrechen können, da würde ihm dieser Eisvorhang sicher keine großen Schwierigkeiten machen.
Aber wie war im Märchen die Prinzessin aus dem Schlaf geweckt worden? Ja, mit einem Kuß.
Wahrscheinlich eine zaghafte Umschreibung (den Kindern zuliebe?) für einen wesentlich intimeren
Vorgang. Der Prinz sagte sich, daß er diese Möglichkeit zumindest in Erwägung ziehen
konnte.
Er klopfte an die Kuppel. Ein helles Geräusch entstand, aber keinerlei Beschädigung war
festzustellen.
Ligeia regte sich und öffnete die Augen - grün wie die Farbe von Gletschereis. Sie entdeckte ihn
und öffnete den Mund. Ihr Busen wogte so heftig, daß die Schneeflockendecke auseinanderfiel. Sie
schien etwas zu sagen, doch er hörte nichts.
»Bitte sorgt Euch nicht«, rief Mym, »ich bin gekommen, Euch zu retten.«
Sie setzte sich auf, wischte die verbliebenen Reste der Decke beiseite und starrte ihn an. Sie
trug nichts weiter als ein leichtes, rosafarbenes Nachthemd, das aufregende Formen mehr als
andeutete. Ihr Haar war unfaßbar hell, und ihre Haut war so weiß, daß sie fast durchsichtig
wirkte.
Eine ausgesprochene Schönheit.
Sie öffnete wieder den Mund und schien zu sprechen, doch auch jetzt drang nichts zu Mym durch.
Die Eisglocke schien jegliches Geräusch zu verschlucken. Der Prinz versuchte, sie auf anderem
Wege zu verstehen. Anhand ihrer Gesten erkannte er, daß ihr irgend etwas nicht behagte.
»Aber ich will Euch doch kein Leid zufügen«, brüllte Mym. »Ich bin gekommen, Euch zu befreien!
Ich bin ein Freund!« Er trat ganz nah an das Eis und rief, wobei er die Lippen lautmalerisch
bewegte: »F-R-E-U-N-D!«
Entweder hatte sie nicht verstanden, oder sie war immer noch mißtrauisch. Sie schüttelte heftig
den Kopf, und so wie ihre Lippen sich immer wieder bewegten, glaubte er, von ihnen mehrmals das
Wort Nein lesen zu können.
Sonderbar - war er vielleicht an eine Prinzessin geraten, die gar nicht gerettet werden wollte?
Er dachte kurz nach und kam zu einem anderen Schluß. Möglicherweise hatten sich ihr in der
Vergangenheit mehrfach Dämonen genähert, um sie in Verkleidung oder falscher Gestalt zu täuschen
und zu quälen. Ganz so wie seine Ebenbilder Gäa belästigt hatten. Jetzt hielt sie ihn sicher für
eine neuerliche Heimsuchung. »Ich bin Mars, die Inkarnation des Krieges!« rief er und betonte
jedes Wort.
Hatte sie ihn verstanden? Er glaubte, von ihren Lippen Mars ablesen zu können. Doch dann
schüttelte sie wieder den Kopf und wehrte mit den Händen ab.
Mym versuchte das Geheimnis der Prinzessin zu ergründen. Wenn sie ihn für authentisch hielt,
warum reagierte sie dann so abweisend? Hatte Lila ihn vielleicht getäuscht? War Ligeia eine
Dämonin, eine Falle der Hölle? Oder war er ihr nur unsympathisch? Auf keine dieser Fragen fand er
eine sinnvolle Antwort. Außerdem hatte Ligeias Abwehr weniger etwas mit Widerwillen als mit
Besorgnis zu tun.
Ja, natürlich, sie hatte Angst, daß die Eissplitter sie verletzen würden, wenn er die Kuppel mit
Gewalt zerstörte. Außerdem schützte
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