Inkarnationen 05 - Sing ein Lied fuer Satan - V3
Ihr, Ihr freches Gör?« fuhr das Halbwesen sie an.
»Ich... Also die Meerjungfrau und ich haben uns überlegt, ob Ihr vielleicht Interesse daran
hättet, Englisch und Lesen zu lernen... Ich könnte Euch das nämlich beibringen...«
Die Harpyie dachte nach. »Und Ihr treibt keinen Scherz mit mir?«
»Nein, ganz und gar nicht... es ist nur so, daß ich mich auf dieser Reise furchtbar langweile...
und da kam mir die Idee...«
»Wann wollen wir anfangen?«
»Mir gleich, jederzeit. Von mir aus auch jetzt...«
»Worauf warten wir denn noch, junge Frau!« Die Harpyie öffnete mit einer Kralle die Verriegelung
ihres Käfigs, sprang hinaus, breitete die Schwingen aus und flatterte zu dem Wagen ihrer
Mitschülerin.
Orb lief ihr nach. Als sie sich alle drei im Wagen der Nixe befanden, schlug Orb ihr Buch auf,
und der Unterricht begann.
In einer so engen Gemeinschaft wie bei einem Wanderzirkus blieb selten etwas länger
verborgen.
Schon am nächsten Tag gesellte sich ein Mahut hinzu, und nach ein paar Tagen hatte Orb ein halbes
Dutzend Schüler. Die Klasse kam jeweils am Morgen und am Nachmittag für eine Stunde Unterricht
zusammen, derweil sich der Zug weiter durch das Land wälzte.
So vergingen Monate, in denen sie durch Indien fuhren. Orb hatte sich wieder einmal in einer
Rolle wiedergefunden, die sie früher nie für möglich gehalten hätte. Aber sie war gern Lehrerin,
denn es gefiel ihr, gebraucht zu werden. Sie wußte selten, in welchem Königreich sich der Zirkus
gerade befand. Ein Land kam ihr wie das andere vor. Überall drängten sich ähnlich neugierige
Gaffer in die Manege, und nur die Flut der geworfenen Münzen belohnte die Mühen der Artisten. Orb
stieß auf niemanden, der etwas vom Llano wußte. Doch sie war deswegen nicht in Sorge, denn unter
den Zirkusleuten fühlte sie sich wohl.
Eines Abends kam nach der Vorstellung ein sonderbarer Mann zu ihr. Er war eher klein und hatte
das Gesicht unter Tüchern verborgen, die nur die Augen, den Mund und die Nase freiließen.
Orb hielt ihn für einen gewöhnlichen Arbeiter, und seinem Äußeren nach zu schließen, gehörte er
der untersten Kaste an. Und dennoch... etwas ging von ihm aus, das auf einen höheren Stand
verwies...
Orb hatte das Gefühl, als hätte sie diesen Mann irgendwo schon einmal gesehen. Aber wie stets bei
solchen Eindrücken konnte sie sich nicht darauf besinnen, wann und wo.
»Ja bitte?« Sie hatte keine Angst vor ihm, als er vor ihr stand. Sie war ja nicht allein, und
falls der Fremde ihr zu nahe treten wollte, wäre er schon im nächsten Moment von mehreren
Arbeitern überwältigt worden. Aber Orb verspürte tief in sich eine merkwürdige Unruhe. Was war
nur an dem Mann, das sie so beschäftigte?
Der Fremde öffnete den Mund, aber kein Ton kam über seine Lippen. Statt dessen begann er nach ein
paar Sekunden, hilflos zu gestikulieren.
»Tut mir leid«, sagte Orb. »Ich sehe, daß Ihr eine Verletzung erlitten habt, doch leider verstehe
ich den hiesigen Dialekt nicht. Sprecht Ihr vielleicht Englisch?«
Die Kiefer des Mannes mahlten, und endlich drangen Laute aus seinem Mund. »Ja-a-a, ve-e-
erste-e-eh' i-i-ich.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn neugierig an.
»Ihr seid wohl sehr schüchtern?« fragte sie mitfühlend. »Das braucht Ihr hier wirklich nicht zu
sein. Sprecht frei heraus und nennt mir Euer Begehr.«
Der Mann gab sich sichtlich Mühe, ein paar Worte herauszubekommen: »Ni-i-icht schü-ü-üchte-e-
ern... Bi-i-in Sto-o-otte-e-ere-e-er...«
Der arme Kerl, dachte Orb, und ihr Mitgefühl wurde noch größer. »Kommt doch in meinen
Wagen.«
Dort saßen die beiden und sahen sich an. Der Fremde gab keinen Ton von sich. Orb mußte wohl oder
übel mit der Konversation beginnen. »Ich habe noch nie mit jemandem zu tun gehabt, der an Eurem
Leiden litt. Vergebt mir also bitte, wenn ich etwas falsch mache. Ich weiß leider nicht so genau,
wie ich Euch helfen kann.«
Er versuchte unter Mühen zu antworten, und aus einer plötzlichen Eingebung heraus verkniff es
sich Orb, ihn zu unterbrechen oder Worte für ihn zu Ende zu sprechen. Allerdings geriet die
Unterhaltung so zu einer recht mühseligen Angelegenheit. Nach etlichen Versuchen seinerseits
glaubte sie, wenigsten soviel verstanden zu haben: Der Fremde brauchte Hilfe, um das Königreich
zu verlassen. Allerdings war er, wie er mehrfach und umständlich betonte, kein Verbrecher oder
politischer Fanatiker.
Was sollte sie nur mit ihm anfangen? Der Fremde schien
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