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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Kassette angeschaut?«
    »Jaja … habe ich.«
    »Was hältst du davon?«
    »Das Ganze sieht mehr nach einer Hinrichtung aus als nach Mord«, sagte Amaldi.
    Chefinspektor Nicola Frese stocherte mit einer Schuhspitze in den Holzspänen herum, die die Terrakottafliesen der Terrasse bedeckten. Er war ein untersetzter, stämmiger Mann, der sich trotz seiner Statur beinahe mit der Anmut eines Tänzers bewegte. Eines etwas komisch wirkenden Tänzers um die fünfzig.
    »Hast du in diesem Chaos hier vielleicht etwas Kleber?«, sagte er, stellte einen Fuß auf das Fensterbrett und fuhr mit dem Finger über die Gummisohle seines Schuhs, die sich ablöste.
    »Ich habe nur Holzkleber. Der eignet sich nicht für Schuhe.«
    »Kleber ist Kleber, oder?«
    »Nein. Das ist Holzkleber. Der eignet sich nicht für Schuhe.«
    »Und jetzt?«
    »Bring sie doch zum Schuster.«
    Frese seufzte. Als er Giuditta im Garten bemerkte, lächelte er ihr zu und winkte. »Ich habe doch nicht meine Schuhe gemeint, Giacomo«, sagte er.
    »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Amaldi.
    »Nein, vielen Dank.«
    Amaldi ging zu Frese und setzte sich neben ihn auf das Begrenzungsmäuerchen der Terrasse. Er wusste genau, dass der Mann es nur schwer ertrug, wenn Menschen vor ihm standen, die deutlich größer als er waren. Sie hatten zu viele Jahre Seite an Seite gearbeitet, als dass er jetzt so tun konnte, als habe er das vergessen.
    Die Strahlen der untergehenden Sonne legten sich beinahe zähflüssig, intensiv und golden wie Honig über Amaldis Gesicht. Betonten sein markantes Kinn und die ersten grauen Haare an den Schläfen, die in dem verwaschenen Strohblond seines stolz erhobenen Kopfes sonst kaum auszumachen waren, brachten seine gerade Nase mit den stets wie witternd zuckenden Nüstern zur Geltung und die ausgeprägten hohen Wangenknochen, über denen sich braungebrannte Haut spannte. Dunkle Augenringe und ein wenig hängende Lider, die ihm das Flair eines erschöpften Fischers verliehen. Helle Augen von einem undefinierbaren Farbton, der zwischen leuchtendem Gelb und den weichen, rauchigen Schattierungen von Tee changierte. Länglich geschnittene Augen, die immer so aussahen, als hielte er sie halb geschlossen. Lichtempfindlich und ohne Furcht vor der Finsternis. Katzenaugen.
    »Ich kann das nicht, Nicola«, sagte er. »Ich bin noch nicht so weit.«
    »Du bist noch nicht so weit …«, brummte Frese ärgerlich.
    »Und vielleicht werde ich niemals mehr so weit sein …«
    »Was möchtest du denn in Zukunft tun, Giacomo? Glaubst du etwa, du kannst dich mit Korbflechten durchbringen?«, platzte Frese heraus.
    »Ich stelle Möbel her. Keine Körbe.«
    »Das ist doch Unsinn.«
    Amaldi stand auf, ging zur anderen Seite der Terrasse und starrte den Horizont an.
    »Es ist nur eine Linie«, sagte Frese.
    »Was?«, fragte Amaldi.
    Frese wedelte mit seinem kurzen stämmigen Arm vage in Richtung Horizont. »Das ist nur eine imaginäre Linie.«
    Amaldi lachte.
    »Was ist daran denn so komisch?«
    »Das was das Erste, was einer der Bewohner der Villa Scarlatti zu mir gesagt hat.«
    »Einer von den Irren?«
    »Ja … einer von denen.«
    »Na ja … daran erkennt man, dass er doch nicht ganz durchgeknallt war.«
    »Man nannte ihn den Philosophen«, sagte Amaldi und dachte an die Zeit zurück, als sein hochgewachsener, muskulöser Körper sich zitternd am Geländer des Sanatoriums festklammerte und er über den Steilhang hinweg in Richtung Meer auf den Horizont starrte, diese Linie, die fern und gerade dalag, Lärm und Stille einzuschließen schien. Als er noch all die Ängste vor dem Unbekannten fühlte, die schon die ersten Bewohner der Erde beunruhigt hatten, als wären es seine eigenen. Tief in seinem Inneren spürte er, wie sie wuchsen und ihn wie eine unerträgliche Bürde belasteten. All diese Fragen, auf die es keine Antwort gab. Und genau wie all diese Menschen, diese längst vergangenen Vorfahren befürchtete er – beseelt von einer pessimistischen Weisheit, von der ihn keine Wissenschaft abbringen konnte –, dass jenseits dieser verschwommenen Linie die Welt aufhören könnte und das große Wasser dort ins dunkle Nichts stürzte. Und seine Liebe zu Giuditta von den Strömungen des Lebens dorthin, zu diesem Abgrund, zu diesem schwankenden Rand getrieben würde, der weder Meer noch Himmel war, und dort hinabgezogen würde. Dass ihre Liebe sich in diesen schrecklichen Wassersturz ergießen, der den Beginn des Nichts am Ende der Welt darstellte, und so

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