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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Eingeweide aus ihr herausschälte, ihr die Haut vom Leib riss, um sie mit Salben und Cremes einzureiben, die sie weich machen sollten, und sie anschließend zu gerben. Der Präparator. Sie träumte davon, wie er das, was von ihr übrig geblieben war, mit Stroh ausstopfte und dann die Arme einer anderen Frau an ihren Rumpf nähte und die Beine einer dritten Frau. Sie träumte von einem schrecklichen Wesen, in dem auch ein bisschen von ihr selbst steckte. Wenigstens von dem, was von ihr übrig geblieben war. Eine blinde Puppe. Eine kopflose Puppe, die gegen die Wände eines gläsernen Käfigs zu rennen schien.
    Sie träumte von dem, was ihr zugestoßen wäre, hätte sie nicht diese kleine Wunde in Form einer Sieben gehabt. Ihren Glücksbringer . »Du bist beschädigt«, hatte der Präparator zu ihr gesagt. Deshalb hatte er sie am Leben gelassen.
    Giuditta wachte jede Nacht schreiend und weinend auf und klammerte sich an ihren Geliebten. Doch wenigstens lebte sie weiter.
    Bis zur nächsten Nacht. Bis zum nächsten Tod.
    Giacomo reagierte anders. Er schreckte niemals aus dem Schlaf hoch und weckte sie damit. Er schrie nicht. Er weinte nicht. Sprach nie darüber.
    Er hatte ihr nur ein einziges Mal, als sie beide noch im Krankenhaus lagen – und danach nie mehr wieder –, erzählt, was ihm zugestoßen war. Völlig emotionslos, als hätte es jemand anderer erlebt. Er hatte von seinem Kampf mit dem Präparator im Zimmer von Ajaccio erzählt, seinem letzten Opfer, dessen Kopf er für seine menschliche Puppe haben wollte. Von dem Skalpell in der Hand dieses Ungeheuers, das Giacomo oberflächlich an der Schulter verwundet und das Bein an der Wade bis auf den Knochen durchschnitten, Bänder und Muskeln durchtrennt und Nerven und Blutgefäße verletzt hatte. Hatte ihr erzählt, wie er in seinem eigenen Blut über den Boden gerobbt war, um zu seiner Pistole zu gelangen, und wie er dann einfach aufs Geratewohl geschossen hatte. Von dem erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht von Professor Avildsen, als dieser merkte, dass er tödlich getroffen worden war. Er hatte ihr erzählt, wie seine Kräfte schwanden, während der andere auf ihn zukam. Die Kräfte, nicht die Sinne, so hatte er sich ausgedrückt. Wie er zugelassen hatte, dass der Präparator – Giudittas Anthropologieprofessor – ihm die Pistole aus der Hand nahm und sie auf ihn richtete, ihm den Lauf der noch warmen Waffe an die Stirn drückte. » Hörst du das? Der Wind legt sich … die Erde bebt nicht mehr … das Meer beruhigt seinen Zorn … die Flammen, die alles verzehrten, lodern nicht mehr … Hörst du das? Hör hin. Jetzt ist sie da … Die Stille«, hatte dieses Ungeheuer mit der hypnotischen Stimme einer Schlange und dem unschuldigen Gesicht eines Kindes zu ihm gesagt. Dann hatte er den Lauf der Pistole von Giacomos Stirn genommen, ihn an seine eigene Schläfe gelegt, abgedrückt und sich damit selbst ausgelöscht. Und Giacomo erinnerte sich noch immer an jedes einzelne Wort ihrer Begegnung.
    Danach hatte er nie wieder darüber geredet. Da war kein Platz für Fragen. Für Ängste.
    Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er sich um sie gekümmert, als wäre er nicht persönlich betroffen und hätte nicht alles selbst aus nächster Nähe miterlebt. Er hatte weitergearbeitet, war zum Commissario befördert worden, hatte seine eigene Abteilung für Serienverbrechen aufgebaut. Er hatte eine Mauer um sein Inneres errichtet.
    Amaldi schrie nicht. Weinte nicht. Redete nicht über seine Erlebnisse.
    Er hatte mit Zorn reagiert, mit gesenktem Kopf gekämpft und versucht, das Problem zu ignorieren, sich ihm nicht zu stellen, als könnte er es so auf Abstand halten. Genauso blind wie die Puppe ohne Kopf. Vergiftet von einem Schmerz, der in seinem Körper gärte. Als ob sein Herz zwar noch Gefühle anderer Menschen spüren konnte, selbst aber wie gelähmt war. Stumm, aber nicht taub.
    Dann waren eines Tages diese stechenden Schmerzen in der Wade aufgetreten, die ihn zwangen, keuchend stehen zu bleiben, oder ihn – wenn er dies nicht konnte oder wollte – vor Schmerzen humpeln ließen. Der Chirurg, der ihn operiert hatte, versicherte ihm, es gäbe dafür keine medizinischen Erklärungen. Medizinisch war seine Verletzung geheilt. Und zwar vollständig. Sämtliche Bänder, Muskeln, Blutgefäße und Nervenenden. Doch Giacomo humpelte mit jedem Tag mehr. Dann nahm er die erste Schmerztablette. Und die zweite. Und die dritte. Bis er nicht mehr ohne sie auskam.
    Das Leben

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