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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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das Geländer des Sanatoriums Villa Scarlatti. Jetzt brauchte er dringend ein Schmerzmittel. Er verharrte stundenlang in dieser Haltung, immer auf der Suche nach dieser Stille, die er einen intensiven, kurzen Augenblick lang gekostet hatte und dann niemals wieder. Während das Brüllen der Wellen, die sich an den Klippen brachen, in seinen Ohren schmerzte, verloren sich seine Augen in der Vergangenheit, harte Augen, die nichts von den dunklen Schatten offenbarten, die sie trübten.
    »Ich denke mir Geschichten aus, wissen Sie?«, hatte eine Stimme hinter ihm gesagt.
    Amaldi war herumgewirbelt, alle Muskeln seines Kiefers waren angespannt. Vor ihm stand ein Patient aus dem Heim, einer von denen, die schon immer hier waren. Ein Verrückter, den alle nur den »Philosophen« nannten. Amaldi hatte ihm keine Antwort gegeben.
    »Ich denke mir für jeden von euch Geschichten aus«, hatte der Philosoph gemeint.
    Amaldi war aufgefallen, wie gelassen und eindringlich seine Augen ihn fixierten.
    »Ich habe auch für Sie eine Geschichte«, hatte der Philosoph gesagt. »Ich fürchte zwar, dass Sie noch nicht bereit dazu sind, sie zu verstehen, aber ich werde sie Ihnen jetzt trotzdem erzählen.«
    Amaldi versenkte sich in die Stille in seinem Inneren.
    »Ein Pärchen geht in ein Tal hinunter …«, hatte der Philosoph begonnen. Seine Stimme klang ruhig, rund und schmeichelnd. »Der Hügel um sie herum steht in voller Blüte und das Gras ist schon feucht von der hereinbrechenden Abenddämmerung … Ehe die Sonne direkt vor ihnen die beiden Liebenden verlässt, setzt sie noch Glanzlichter in ihre Haare und bringt seine Augen zum Strahlen … und lässt sie beide schöner wirken, als sie eigentlich sind. Hinter ihnen trottet ein alter Hund her, mit gesenktem Kopf, und auch seine Zunge hängt schlaff aus dem Maul, als wäre sie zwischen den nunmehr zahnlosen Kiefern eingeschlafen. Aber sein Schwanz wedelt stolz und glücklich. In dieser idyllischen Landschaft bleibt die Frau auf einmal stehen und packt ihren Liebsten bei den Schultern, ganz so, als wäre sie der Mann, zieht ihn zu sich heran … und küsst ihn auf den Mund. Die eine Hälfte ihrer Gesichter leuchtet im orangefarbenen Licht der Abendsonne, die andere Hälfte liegt im Schatten … so wie nur eine Hälfte von ihnen schöner ist, als sie in Wirklichkeit sind, und die andere Hälfte hässlicher. ›Ich liebe dich‹, will er gerade sagen. ›Ich liebe dich und ich würde alles für dich tun. Auch hier auf der Stelle meinen alten geliebten Hund umbringen, wenn du mich darum bittest‹, aber sie legt ihm eine Hand auf den Mund und sagt: ›Ich weiß, dass du mich liebst … Aber wärst du in der Lage, hier auf der Stelle deinen alten geliebten Hund umzubringen, wenn ich dich darum bitte?‹ Der Mann starrt sie an, er überlegt und dann sagt er: ›Aber warum bittest du mich jetzt darum?‹ Inzwischen ist die Sonne untergegangen und hat jene Hälfte endgültig ausgelöscht, die sie schöner aussehen ließ, als sie jemals waren. Ihre Gesichter liegen nun im Schatten. Keine Glanzlichter ruhen mehr auf ihren Haaren. Und seine Augen strahlen nicht mehr so wie vorher. Der alte Hund wackelt mit seinem kahlen Kopf hin und her, hat seinen Schwanz ein wenig eingezogen, während er seinem Herrchen folgt, denn hier trennen sich die Wege des Mannes und der Frau. Bald wird es dunkel sein und dann kann man ihre Gesichter nicht mehr erkennen, schwarz sind sie, schwarz in der Schwärze der Nacht …«, hatte der Philosoph geendet. »Das ist jetzt Ihre Geschichte. Ich schenke sie Ihnen.«
    Hinter dem Weinberg fiel der Pfad steil zum Meer ab. Giuditta hatte einen Felsen ganz für sich alleine. Er war glatt und abgerundet. Ein uralter Felsen, der keine Ecken und Kanten mehr hatte, die die Wellen hätten abschleifen können. Giuditta ließ sich mit übereinandergeschlagenen Beinen darauf nieder und beobachtete, wie die Sonne langsam zur nächtlichen Ruhe im Wasser versank.
    Sie fuhr mit einer Hand unter ihren Pullover und streichelte liebevoll eine kleine Narbe in Form einer Sieben, die man nach fast zwei Jahren beinahe nicht mehr erkennen konnte. Sie befand sich knapp unterhalb der linken Brust. Dort, wo das Herz schlug. Ihr Glücksbringer . Dort hatte sie das Schicksal gezeichnet.
    Zwei Monate lang war sie jede Nacht panikerfüllt hochgeschreckt und hatte geschrien vor Angst. Hatte von dem Monster geträumt, das sie berührte, das das Leben aus ihr entweichen ließ, das Fleisch, die Knochen, die

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