Inkubus
immer noch vom Dienst freigestellt. Mit eigenen Händen hatten sie sich etwas aufgebaut – nicht nur die Hängematte, einen Abenteuerspielplatz, den sie das Piratenlabyrinth genannt hatten, die ersten, schiefen Möbel aus Tannenholz, sie hatten sich selbst neu geschaffen. Jeden Tag.
Jetzt schliefen sie wieder miteinander. Sie hatten ihr Lachen wiedergefunden. Wachten nicht jede Nacht von Albträumen gequält auf. Und ihre Wunden hatten sich geschlossen.
Früher oder später wird er seine Flügel ausbreiten und fliegen, dachte Giuditta und strich liebevoll mit der Hand über den alten Felsen, der ganz glatt und eben geworden war, um nicht mehr mit den Wellen kämpfen zu müssen.
Ab und an sah sie ihn mit der Geschichte des Philosophen in der Hand dastehen, die er sich noch am selben Tag, als er sie gehört hatte, aufgeschrieben hatte. Das Blatt war inzwischen völlig zerknittert. Er hatte sich monatelang mit dieser Geschichte beschäftigt und bekam sie noch immer nicht aus dem Kopf. Aber es war eine Geschichte aus der Vergangenheit. Eine alte, dumme Geschichte, die sie beide nicht betraf. Nicht mehr.
Er würde auch darüber hinwegkommen.
Bald würde er wieder aufbrechen und in sein Leben zurückkehren, aber das musste er allein entscheiden. Giuditta spürte, dass er bereit dafür war. Sie wusste es. Das konnte sie jeden Tag deutlicher in seinen Augen lesen.
Sie tauchte eine Hand ins Meer und fuhr sich mit den nassen Fingern über die Lippen.
Giacomo mochte es, wenn sie nach Salz schmeckte.
Amaldi löffelte seinen Teller Suppe aus, schaute aus dem Fenster auf jenen sternklaren Himmel, der so anders aussah als jener, der drückend und schwer auf der Stadt lastete. Beim Abendessen hatten sie kaum miteinander geredet. Giuditta wusste, woran Giacomo dachte.
»Möchtest du noch?«, fragte sie ihn.
»Was …? Nein. Nein danke …« Dann betrachtete er sie schweigend.
»Was ist?«, meinte sie.
»Nichts …«
»Bist du sicher, dass du nichts mehr von der Suppe willst?«
»Ja, ganz sicher«, meinte er und sah sie weiter schweigend an.
»Jetzt sag’s schon.«
»Was?«
»Woher soll ich das wissen, wenn du es nicht sagst?«, log Giuditta lachend.
Amaldi seufzte und kratzte zerstreut mit dem Löffel auf dem Teller herum. Er holte tief Luft und verzog sein Gesicht. »Ich dachte nur … Vielleicht könnte ich ja hier ein wenig arbeiten … Vielleicht mal in den Akten blättern …«
Giuditta wusste, dass er sie auf die Probe stellte, ein subtiles Spiel, bei dem man bei der Wahrheit bleiben musste. »Meinst du damit etwa Autopsieergebnisse, Fotos von verstümmelten Leichen und psychiatrische Gutachten?«
»Na ja, schon …«
»Du hattest mir doch versprochen, das Piratenlabyrinth zu reparieren.«
»Das werde ich auch tun … Ich hätte trotzdem immer noch jede Menge Zeit für uns.«
»Bestimmt?«
»Ganz bestimmt.«
»Sonst muss ich einen Schreiner kommen lassen.«
»Einen richtigen Schreiner meinst du wohl?«, fragte Amaldi.
»Ganz genau.«
»Dann denkst du also auch, dass meine Möbel nichts taugen?«
»Versprich mir, dass du dich darum kümmern wirst.«
»Ich verspreche es«, sagte er lächelnd, hörte aber nicht auf, mit dem Löffel herumzuspielen. »Was hältst du davon?«
»Wovon?«
»Wenn ich Nicola sage, er soll mir ein paar Akten vorbeibringen.«
»Lass sie aber nicht herumliegen. Ich möchte nicht, dass die Kinder sie sehen.«
»Sicher. Also, was hältst du davon?«
»Du bist ein besserer Polizist als Schreiner. So viel steht fest.«
Amaldis Augen leuchteten auf.
Giuditta lächelte glücklich. Zum ersten Mal breitete er wieder die Flügel aus. Und sie war dabei und sah ihm zu.
Amaldi zog sie an sich und seine Hände glitten suchend unter ihre Kleidung. Er schob ihren Pulli hoch und küsste die kaum erkennbare Narbe an ihrer Seite. Ihren Glücksbringer . Dann wanderten seine Lippen nach oben zu ihrem weichen Busen, an ihre zartrosa Brustwarze.
»Wolltest du nicht Nicola anrufen?«, fragte sie ihn spöttisch.
»Das hat Zeit bis morgen Früh.«
IV
Der Junge hatte Albträume. Immer. Nachts, wenn er schlief. Tagsüber, wenn er wach war. Diese Bilder überfielen ihn plötzlich, ohne Vorwarnung. Tauchten aus diesem furchterregenden Nichts auf, das der Junge in sich trug und überallhin mit sich schleppte, das er nährte und in sich wachsen ließ wie ein Anhängsel seines Ichs. Wenn er am wenigsten damit rechnete, tauchten sie plötzlich auf, wie ein Hinterhalt oder eine heimtückisch
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