Inkubus
Der Biss in den Apfel hatte ihm die Straße zum Licht geöffnet. Denn ohne diesen Biss wäre er niemals seiner Bestimmung begegnet. Seinen Herrn.
Er blieb regungslos stehen, ohne ein weiteres Wort oder ein Gebet zu sprechen. Und so würde er verharren, bis der Hass erloschen war.
Der Hass, der seine Vision vernebelt hatte. Und so die Botschaft behinderte. Denn der Hass war die Dunkelheit. Und die Dunkelheit musste ihr eigenes Wesen vergessen, musste sich selbst verleugnen, damit das Licht wieder erstrahlen konnte.
Dann, als der Hass verschwunden war, hörte er wieder die Stimme seiner Vision.
»Es ist Zeit! … Zeit! Tu, was du tun musst! … du musst!«
Vielleicht hörte jetzt sogar der Gast dort drüben im anderen, dunklen Zimmer die Stimme seiner Vision.
»Es ist Zeit! … Zeit! Tu, was du tun musst! … du musst!«
Nackt wie er war stand der Junge auf, gereinigt von den Tränen, die den Schmutz seiner obszönen Sünden von ihm abgewaschen hatten, während sie ihm über den Bauch, den Unterleib geflossen waren bis dorthin, wo seine Füße sich mit der Erde vereinigten, und so ging er zu seinem Gast. Seinem zweiten Gast. Nackt wie er selbst und bereit für das Verhör. Für die Läuterung.
In einer Hand hielt er das glänzende Werkzeug, das dazu ausersehen war, das Licht in den Augen seiner Gäste zu suchen.
In der anderen Hand den grünen Apfel, der wieder und wieder in einem einzigen Biss verschlungen werden würde.
»Ich möchte Töne hören, die man gar nicht wahrnehmen kann, ich möchte etwas hören, das über den Schmerz hinausgeht. Ich möchte nicht deinen Körper stöhnen hören, sondern deine Seele«, flüsterte er seinem Gast zu. »Gib mir das Licht . Es gehört dir ebenso wenig wie mir.«
Dann zeigte er ihm das glänzende Werkzeug in seiner Hand, das gleich bei ihm zur Anwendung kommen würde, und den Apfel in der anderen, den er verschlingen sollte, damit die Frucht auf diese Weise ihren Mittelpunkt, ihr Gleichgewicht wiederfand.
»Mach den Mund auf«, sagte er zu ihm, völlig frei von Hass.
Der an den Stuhl gefesselte nackte Mann stöhnte laut auf.
Es war nicht weiter schwierig gewesen, ihn zu entführen.
Er hatte ihn nur in den Lieferwagen stoßen und ihm einen kräftigen, gut platzierten Hieb in den Nacken genau an der Schädelbasis geben müssen. Seine Beute war wie ein nasser Sack in sich zusammengesunken. Er war bis zur Rampe gefahren, hatte das Tor geöffnet und war aus dem Lieferwagen gestiegen, und hatte es hinter sich geschlossen. Dann hatte er das Rollgitter hochgeschoben, war mit dem Lieferwagen in die kleine Garage gefahren und hatte das Rollgitter wieder heruntergelassen. Von diesem Augenblick an würde er vollkommen ungestört sein.
Solange der Doktor noch ohnmächtig war, hatte er ihm den Mund mit Pflaster verklebt und ihn mit äußerster Sorgfalt entkleidet. Als er ihm den Knoten der Krawatte löste, hatte er dem leisen Rascheln der Seide gelauscht. Er hatte die Knöpfe des zweireihigen Sakkos geöffnet, die Hemdknöpfe einen nach dem anderen durch die Knopflöcher geschoben und dem Mann die Hose ausgezogen. Der Doktor besaß einen braungebrannten, dicht behaarten Oberkörper mit ausgeprägten Brustmuskeln. Er hatte über diese Brust gestreichelt und dann war seine Hand bis zur Hose geglitten, hatte den Krokodilledergürtel mit der vergoldeten Schnalle geöffnet und aus den Schlaufen gezogen, dann hatte er ihm Hose und Unterhose ausgezogen. Schuhe und Strümpfe hatte er ihm ganz zu Anfang abgenommen.
Jetzt war der Doktor nackt. Wie er. Wie der Junge an jenem Tag. Als der Junge seinen auch im schlaffen Zustand großen Penis streichelte und prüfend in die Hand nahm, war der Doktor auf dem Stuhl zusammengezuckt. Sein Glied hatte auf das Streicheln nicht reagiert.
Der Junge war aufgestanden. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.
»Ich habe keine Angst«, hatte er zum Doktor gesagt. »Ich habe keine Angst.«
Er war zum Tisch gegangen, auf dem er die Kleidungsstücke abgelegt hatte, und hatte sie mit einer Schneiderschere in daumennagelgroße Stücke geschnitten. Dafür hatte er mehr als eine Stunde gebraucht. Aber er hatte ja Zeit. Er hatte die ganze Nacht Zeit, und er war nicht müde. Sein Opfer würde ebenfalls nicht schlafen. Zu viel Adrenalin im Blut.
Während der Nacht hatte er draußen vor dem verhängten Fenster des Kellergeschosses jemanden auf dem Bürgersteig vorüberlaufen gehört, wahrscheinlich jemand, der seinen Hund ausführte.
»Ich bin bald wieder da«,
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