Inkubus
Da sind doch die Superzwerge , erinnerst du dich?«
»Das hast du gehört?«, fragte Amaldi überrascht.
»Nicola ist schwer zu überhören«, meinte Giuditta lachend.
»Und du hast dich nicht geärgert?«
»An dem Tag hätte ich ihn erwürgen können. Aber dann am nächsten Morgen … als der Stöpsel zu Palermo geflüchtet ist und ihn angelächelt hat und sich von ihm hat anfassen lassen … Du hast Nicola nicht gesehen … Er kann so etwas eben nicht … Nicola ist nun mal, wie er ist und wie wir alle ihn kennen … Die Kinder haben Angst vor ihm. Aber es schmerzt ihn … mehr als er zugeben würde. Ich habe es gesehen, ich habe es in seinen Augen gelesen …« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Also? Wirst du dich ins Kampfgetümmel stürzen?«
»Ich denke darüber nach …«
Es kam öfter vor, dass Primo Ramondi in tiefe Trauer versank. Dann tauchte er ab in einen Albtraum, der viel schrecklicher und grausamer war als der, dem er sich täglich stellen musste. Seine zerstörerische Energie wandte sich gegen ihn, wie ein schlecht abgerichtetes Tier, und schlug ebenso spitze Zähne in sein Fleisch, wie er in die Körper von Prostituierten, um den Hunger der eigenen Entfremdung zu stillen.
In diesen Moment trübte – oder klärte sich – seine verzerrte, pathologische Sicht auf die Dinge.
Seine Strafe war das Sehen.
Sich selbst mit den Augen der Welt zu sehen. Sich wahrzunehmen mit dem moralischen Anspruch der Normalbürger. Und genauso gelähmt vor Angst wie seine eigenen Opfer das Monster in seinem Inneren zu beobachten.
Die Strafe war, sich selbst ins Gesicht sehen zu müssen.
Er hätte sich mit den Qualen beschäftigen können, von denen er vorgab, dass er sie nie erlitten hatte. Sogar bei seinen frühesten Leiden. Und hätte sich selbst bemitleiden können, weil ihn das Schicksal ständig verfolgt hatte, wie es nur wenigen Unglücklichen bestimmt war. Aber vor allem sah Primo Ramondi nur seinen eigenen, ihn vollständig beherrschenden Egoismus. Er sah, wie der vor endlosen Jahren diesen verhängnisvollen Schritt für ihn machte, mit dem er sich endgültig aus der Gesellschaft ausgeschlossen hatte. Und nachdem er als den Motor seiner Handlungen jene einfache, schreckliche Krankheit erkannte, die er niemals hatte behandeln wollen, sah er, wie er selbst jede Form von Liebe schon im Ansatz erstickte, weil sie nicht wachsen durfte.
Primo Ramondi lag seit dem Morgen erschöpft auf dem Bett. Er war nackt, ohne ein einziges Haar am Körper. Er hatte den ganzen Tag in dieser Position, mit übereinandergeschlagenen Beinen verharrt, und nun schmerzten seine Schenkel. Sein Rücken lehnte am weißen Kopfende des Bettes. Schon im Morgengrauen, als er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass er nicht aufstehen konnte, war ihm eine kleine, schmutzige Vogelfeder auf seinen Laken aufgefallen, aber er hatte nicht die Kraft aufgebracht, sie mit der Pinzette aufzunehmen und fortzuwerfen. Ab und an wanderten seine Augen zu diesem Schmutz zurück, eher aus einem Reflex heraus als aus eigenem Antrieb, denn der war zu schwach. Gegen Abend hatte er seine rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf dem Bett ausgestreckt und hatte sich dazu vorgestellt, das sei er, als Gefangener seiner Vergangenheit. Manchmal funktionierte dieser Trick. Dann hatte er die linke Hand geöffnet wie eine fleischige Blüte und auf der anderen Seite des Bettes abgelegt und sich gesagt, das sei er in der Zukunft. Schließlich hatte er den Blick wieder auf seinen Körper zwischen beiden Händen gerichtet. Das war die Gegenwart. Manchmal klappte das. Dann akzeptierte er die Vorstellung, dass nichts von dem, was er dachte, wirklich geschehen würde. Die Gedanken – jene Gedanken – waren wie seine Hände, nicht ganz ein Teil seiner selbst. Sie gehörten zu Fantasievorstellungen aus einer anderen Zeit, Vergangenheit oder Zukunft, doch keinesfalls in eine reale, lebendige Gegenwart. Wenn er den eigenen Körper betrachtete, konnte er der Welt trotzen und fand beinahe immer zu sich selbst. Aber an diesem Tag hatte er das bereits siebenundfünfzigmal versucht. Hatte jeden dieser vergeblichen Versuche, bei dem er nur seinen lächerlichen unbehaarten Körper gesehen hatte, mit einer geradezu unangenehmen Distanz registriert.
Wenn er seinem Egoismus so entgegentrat, mit hochgeklapptem Visier und ganz ohne Maske, vermittelte er ihm das Gefühl, ein Mann wie jeder andere zu sein. Das war seine Strafe. Primo Ramondi sah das Leid seiner verzweifelten
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