Inmitten der Unendlichkeit
sich in der Kapitänskabine und sortierte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er arbeitete im Stehen. Der Sessel des Kapitäns blieb unbenutzt.
Korie war noch nicht soweit, sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch zu setzen. Der eigentliche Kapitän schwebte in einer Lazarettröhre irgendwo in den Gedärmen von Stardock, aber Korie benutzte das Büro, weil es der Sitz der Macht an Bord des Schiffes war. Hier wurden Informationen koordiniert und Entscheidungen getroffen.
Und… er benutzte das Büro außerdem, weil er erwartete, daß es bald das seinige sein würde. Nein. Weil er es erwartet hatte. Jetzt nicht mehr. Nicht nach der Szene im Büro der Vizeadmiralin.
Rein technisch betrachtet war Richard ›Sternenwolf‹ Hardesty noch immer Kapitän der LS-1187. Aber rein technisch betrachtet war Hardesty auch tot. Medizinisch jedenfalls. Sein Körper war mit Phullogine konserviert, aber seine Gehirnprothese arbeitete noch. Dachte noch. Sprach noch.
Auf Stardock war eine ethische Debatte ausgebrochen, ob der Kapitän legal hirntot war oder nicht, ob seine Persönlichkeit sich vollständig in die Prothese übertragen hatte oder ob die künstliche Gehirnhälfte nur Bewußtsein simulierte.
Nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung hatten die Ärzte entschieden, diese Frage auf später zu verschieben und sich der dringenderen Aufgabe zuzuwenden, den Körper des Kapitäns wiederzubeleben. Es herrschten beträchtliche Zweifel, ob diese Möglichkeit überhaupt bestand, obwohl die Unterbrechung und Wiederherstellung der Lebensfunktionen mit Hilfe von Phullogine bei Tieren im Labor bereits gelungen war. Aber bei Menschen hatte man noch nie zufriedenstellende Ergebnisse erzielt. Und so erwartete man von Kapitän Richard ›Sternenwolf‹ Hardesty auch nicht, daß er in nächster Zukunft wieder in den aktiven Dienst zurückkehren würde.
Korie blätterte ohne großes Interesse durch den Inhalt seines Ordners. Das meiste waren Routineangelegenheiten. Papierkram. Die Unterhaltungsindustrie suggerierte nur zu oft, daß der Großteil der Arbeitszeit eines Schiffskapitäns darin bestand, Handgemenge und Kämpfe mit fremden Lebensformen zu bestehen – aber die ärgerliche Wahrheit war, daß die brutalsten Schlachten, die die meisten Kapitäne je geschlagen hatten, mit hundsgewöhnlichen irdischen Bürokraten ausgefochten worden waren.
In Kories Ordner befanden sich unter anderem ein paar Beförderungen, einige routinemäßige Gehaltserhöhungen, einige unwesentliche Bonusse, die Glückwunschbotschaft der Admiralität und eine große Anzahl von Medaillen. Korie schob sie zur Seite. Es war ein großer Stapel, aber nicht groß genug als Anerkennung für das, was sie durchgemacht hatten.
Man hatte ihnen ihren fairen Anteil verweigert.
Den fairen Anteil. Ob es so etwas wie einen fairen Anteil überhaupt gab?
Vielleicht nicht. Es kam ganz darauf an, aus welcher Sicht man die Dinge betrachtete.
Alles war eine Frage des Austauschs von Energie, erkannte er. Physikalisch. Emotional. Ökonomisch. Geistig. Wie auch immer. Als Korie sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater ihm die Erlaubnis gegeben, sich mit dem Studium des zyne [ii] zu beschäftigen. Nach den Lehren eines der zyne- Meister, unter denen er studiert hatte, eines überschwenglichen Mannes namens MacNamara, waren menschliche Wesen enertropisch: Sie fühlten sich von Macht und Energie angezogen. Von jedweder Form von Macht oder Autorität oder Stärke, und selbst dann noch, wenn diese Macht nur eine charismatische Illusion war, wie man sie in einigen Religionen finden konnte. Selbst dann noch besaß Macht eine anscheinend unüberwindliche Anziehungskraft auf Menschen, die kein Pheromon je erreichen konnte. Und wo Macht nicht existierte, da schufen die Menschen sie, setzten sie voraus, machten sie an bestimmten Dingen fest und kämpften anschließend darum.
Einer Simulation der Realität zufolge war alles, was menschliche Wesen taten, im Grunde genommen nichts weiter als ein Austausch von Energie. Jede Interaktion. Jede Beziehung. Eine Mutter gab ihrem Kind Nahrung und Schutz, und das Kind gab die Energie in Form von Zuneigung zurück; auf diese Weise erhielt die Mutter einen großen emotionalen Bonus um den Preis einer kleinen physischen Anstrengung. Liebende tauschten gewöhnlich Zuneigung aus; aber nur dort, wo der Austausch für beide Seiten gleich fruchtbar war, entstand eine ideale Beziehung. Angestellte tauschten ihre Arbeit gegen Geld; wo die
Weitere Kostenlose Bücher