Innere Werte
Boden und die Blätter der Büsche waren mit winzigen Eiskristallen überzogen. Dieses wunderschöne winterliche Bild blieb ihren Freundinnen versagt. Sie lächelte vor sich hin und freute sich schon auf einen herrlich duftenden Glühwein, den sie sich im Chausseehaus gönnen würde. Während sie so dahinschlenderte, sah Edith im Augenwinkel etwas Blaues, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie verließ den Weg und ging direkt zwischen den Bäumen hindurch darauf zu. Sicher war das wieder irgendwelcher Müll, den Umweltsünder hier abgekippt hatten. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich um eine blaue Jacke handelte. Edith hob sie auf und begutachtete sie. Das war kein alter Fetzen, den einer hier entsorgt hatte. Die Jacke schien ziemlich neu zu sein. Wie konnte denn jemand so etwas hier liegenlassen? Sie ließ ihren Blick durch den Wald schweifen und entdeckte in einiger Entfernung noch etwas Undefinierbares. Sie kniff die Augen leicht zusammen, um es vielleicht genauer erkennen zu können. Einige Schritte ging sie darauf zu. Plötzlich zuckte sie zusammen und blieb abrupt stehen. Da lag ein Mensch auf dem Boden, noch dazu nackt. Hilfesuchend blickte sie sich um. Niemand zu sehen. Was sollte sie jetzt tun? Sie fühlte, wie ihr Herz vor Aufregung raste. Vorsichtig ging sie näher an den Körper heran und erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Ihre rechte Hand lag auf ihrem Bauch, die linke neben dem Körper im Laub. Sie sah furchtbar blass aus, leichenblass und unwirklich irgendwie. Obwohl sie es nicht sicher wusste, nahm Edith Schmaler an, dass die Frau tot war. Schnell wandte sie sich ab und verfluchte ihre Abneigung gegen die moderne Technik. Wäre sie nicht so stur gewesen, hätte ihr Sohn ihr ein Handy geschenkt. Doch sie hatte kategorisch abgelehnt.
So schnell sie konnte lief sie zurück auf den Weg und in Richtung Aarstraße.
Zur gleichen Zeit war auch Susanne Wellner eilig unterwegs. Sie ging auf den Eingang des Grand Hotels am Kaiser-Friedrich-Platz zu. Ihren Mantelkragen hatte sie hochgeschlagen, weniger zum Schutz vor der Kälte, als vielmehr, um sich zu verstecken. Susanne Wellner fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Das schlechte Gewissen plagte sie, wenngleich sie der Gedanke, etwas Verbotenes zu tun, erregte.
Steffen war nach dem Mittagessen weggefahren, mal wieder ohne zu sagen, wohin. Immer hieß es nur: »Ich muss was erledigen.« Sogar am Sonntag ließ er sie alleine. Wütend auf ihren Mann, rief sie Theo Stadler an. Ob er Zeit hatte, wollte sie wissen, und ob sie sich treffen könnten. Theo war zu einer Besprechung im Hotel »Nassauer Hof« und schlug vor, dass Susanne zu ihm käme.
Nachdem Theo die Unterhaltung mit den Eltern des kranken Kindes beendet hatte, nahm er sich ein Zimmer und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock.
Wie hieß das Kind noch gleich?, überlegte er. Nicole oder so. Egal! Wen interessierte schon ein Name? Dieses Mädchen war auch nur ein Fall, der ihm einen Haufen Geld einbringen würde. Die Eltern waren mit seinem Vorschlag einverstanden gewesen. Sie hatten ja auch gar keine andere Wahl, wenn sie ihrer Tochter helfen wollten. Es sah tatsächlich so aus, als ob das Geschäft auch ohne Anja laufen würde. So war das Risiko zwar ein bisschen größer, immerhin gab er seine Identität bis zu einem gewissen Maße preis, aber kein großes Geschäft ließ sich völlig risikolos tätigen.
Susanne betrat die elegante Lobby und blickte sich suchend um. Als sie Theo nirgends sah, fragte sie an der Rezeption nach ihm.
»Dr. Stadler ist bereits auf dem Zimmer«, lächelte ihr eine Dame im schwarzen Kostüm entgegen. »Dritter Stock, Nummer 307. Er erwartet Sie.«
Susanne schoss die Röte ins Gesicht. Sich so öffentlich auf einem Hotelzimmer zu treffen, beschämte sie. Sie beeilte sich, den Aufzug zu erreichen. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen, während sie auf ihn wartete. Erst als sich die Türen hinter ihr schlossen, atmete sie erleichtert auf. Das war ihr ein bisschen zu viel Aufregung. Hätte er ihr die Zimmernummer nicht einfach per Handy mitteilen können, damit sie nicht erst hätte nachfragen müssen?
Sekunden später klopfte sie etwas missmutig an die Tür mit der Nummer 307. Theo empfing sie mit einem selbstsicheren Lächeln und zog sie, kaum, dass die Tür ins Schloss gefallen war, in seine Arme. Sein Kuss ließ ihr die Knie weich werden und ihren letzten Zweifel verschwinden. Ohne ein Wort zog er sie aus, nahm sie
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