Innerste Sphaere
hatte fallen lassen. Ich spürte einen seltsamen Schmerz in der Brust, aber ich ignorierte das – es war nicht anders als zu meinen Lebzeiten. Die einzige Person, auf die ich mich verlassen konnte, war ich selbst. Und ich musste sehen, wie ich hier rauskam. Jedenfalls wollte ich nicht dorthin, wo Sil mich hinbrachte. Seine Familie war bestimmt nicht sonderlich gastfreundlich.
Ein hünenhafter Mann, der aussah wie ein Samoaner, saß auf einer Veranda vor einem Reihenhaus im nächsten Häuserblock. »Chimola!«, rief Sil und entblößte grinsend seine glitzernden Zähne. »Wo sind die anderen?«
Der Mann blickte auf und winkte. Mich musterte er mit einem Blick, der mich wünschen ließ, unsichtbar zu sein. Er deutete auf ein Gebäude auf der anderen Straßenseite, aus dem Hand in Hand zwei Frauen traten. Eine von ihnen war jung und zart gebaut. Ihr langes blondes Haar fiel ihr in schmalen Zöpfen auf die Schultern.Sie erinnerte mich an diese weißen Mädels, die mit Rastazöpfchen aus ihrem Jamaica-Frühlingstrip heimkamen und glaubten, sie sähen gut aus.
Die andere war älter. Viel älter. Ihr eisengraues Haar hatte sie auf Lockenwickler gedreht. Man hatte den Eindruck, die beiden hätten Friseur gespielt. Die ältere streichelte der jüngeren die Schulter und säuselte ihr etwas ins Ohr, während sie dem Mädchen half, einen viel zu großen Schwertgürtel anzulegen. Zweifellos von einem Wächter. Das Mädchen war so klein, dass die Klinge in der Scheide an ihrer Taille auf dem Boden schleifte. Interessant. Ich fragte mich, ob der Arm des Mädchens überhaupt lang genug war, um den Krummsäbel zu ziehen. Vielleicht, wenn ich sie allein …
Ein Schnaufen und Trappeln lenkte mich von dem Mädchen ab und ich sah, wie die Alte auf allen Vieren auf mich zu galoppierte.
Sil bohrte immer noch seine Klauen in meine Hand.
»Mädchen schaut Lacey an«, fauchte die Alte.
»Ganz ruhig, Doris«, meinte Sil und streichelte ihre Lockenwickler. »Das Mädchen wird bald zu unserer Familie gehören. Sie ist keine Gefahr. Und schau dir ihre Haare an!«
Doris richtete ihre wässrig blauen Augen auf meine Lockenmähne. »Perfekt«, murmelte sie und unterstrich das Wort mit einem kratzigen Keuchen. Sie hatte einen europäischen Akzent. Deutsch vielleicht? Ihre plumpe, fleckige Hand fuhr mir überraschend sanft über den Kopf. »Braves Mädchen.«
Dann stieß sie ein Lachen aus, das sich eher wie ein Schnarchen anhörte, und trabte zurück zu der jungen Frau mit dem großen Schwert, die anscheinend Lacey hieß. Doris umfasste Laceys Gesicht mit den Händen und küsste sie hastig auf den Mund, dann führte sie sie über die Straße zu dem riesenhaften Chimola. Hervorragend. Die gruselige Alte wollte mich frisieren. Und vielleicht nicht nur das. Nichts wie weg hier.
»Wo ist Juri?«, fragte Sil.
»Auf der Jagd«, rief Lacey mit glockenheller Stimme und erkennbarem Südstaatenakzent. Sie fummelte an einem von Doris’ Lockenwicklern herum. Doris setzte sich auf die Veranda und zogLacey auf ihren Schoß. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte. Doris’ animalische Bewegungen waren ekelerregend kraftvoll und schnell.
Aus Sils Kehle drang ein Winseln. »Wir müssen bald hier weg. Glaubt ihr denn, der Wächter sucht nicht nach mir? Malachi
weiß
, dass ich entkommen bin! Ihr alle solltet hier auf mich warten. Und wo sind eure Waffen? Ist denn nur Lacey vorbereitet?«
Doris schenkte ihm ein wölfisches Grinsen und holte etwas hinter Chimolas breitem Kreuz hervor. Zwei weitere Krummsäbel. Na toll. Diese verrückten Tiermenschen waren allesamt bewaffnet.
Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sich eine Hand zwischen mich und Sil drängte und nach meinem Busen griff. Schlagartig wirbelte ich herum und riss Sil mit, sodass er zwischen mich und den Grabscher geriet. Sil zwinkerte erstaunt, schien aber nicht gerade erschrocken.
»Juri!«, begrüßte er den Grabscher freudig, einen Mann mit Hakennase, schwerem Unterbiss und dem Körperbau eines Footballspielers.
Als Juri mein Gesicht sah, bekam er große Augen, als könne er nicht glauben, wen er vor sich hatte. Er grinste. »
Du
bist das.«
Seine Stimme jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es war die Stimme, bei deren Klang ich hundertmal schreiend aufgewacht war. Er machte einen Schritt auf mich zu, in seinen Augen funkelte eine Erregung, die ich allzu gut kannte.
»Bleib mir vom Leib«, fuhr ich ihn an.
Er stieß ein kehliges Glucksen aus.
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